Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
seiner Datscha an einem Herzinfarkt gestorben war. Mit Pasternak und seinem internationalen Ruf verloren Olga Iwinskaja und ihre Tochter ihren berühmten Beschützer. Der KGB wartete schon seit Jahren darauf, ihrer habhaft zu werden; sie waren bekannt dafür, Beziehungen zu Westlern zu pflegen und Geschenke von ihnen anzunehmen. Um das Maß vollzumachen, waren sie außerdem die Erben der internationalen Rechte an Pasternaks schädlichem antisowjetischem Buch. Nun wollte man sich Olga und ihre ausländerliebende Tochter vornehmen.
Bald nach Pasternaks Tod wurden Mervyn und Georges zusammen mit allen Studenten ihres Semesters in der Universitätsklinik routinemäßig gegen Pocken geimpft. Mervyns Impfung verlief ohne Zwischenfall, doch Georges bekam schon bald einen rätselhaften Ausschlag, der so schlimm wurde, dass er an seinem geplanten Hochzeitstag im Krankenhaus lag. Ein zweiter Termin im Juli wurde festgelegt, doch in den frühmorgens wurde eine Krankenschwester an seinem Bett postiert und so Irinas Plan durchkreuzt, Georges aus dem Krankenhaus zu schmuggeln. Dann erkrankte Irina selbst an der schrecklichen Hautkrankheit.
Zunächst vermuteten weder Georges noch Irina – und nicht einmal ihre Mutter, eine Veteranin der Folterzellen des NKWD –, dass sie vom KGB infiziert worden waren, um die Hochzeit zu verhindern. Doch es wurde immer offensichtlicher, dass dies die wahrscheinlichste Erklärung für ihre rätselhaften heftigen Ausschläge war. Georges war zutiefst schockiert von dem Gedanken; ebenso seine Schwiegermutter in spe, trotz allem, was sie bereits erlebt hatte. Georges’ Studentenvisum lief Ende Juli aus und wurde trotz seines verzweifelten Flehens nicht verlängert. Irina war zu krank, um sich von Georges zu verabschieden, als er nach Paris abreiste. Mervyn brachte zusammen mit Irinas Mutter den schluchzenden Georges zum Flughafen. Die alte Dame wirkte kleiner als sonst, nur noch ein Schatten ihres lebhaften alten Selbst, als sie Georges verabschiedeten. Er und Irina wurden schnell wieder gesund, doch sie sollten sich erst ein halbes Leben später wiedersehen.
Mervyn beschloss, mit Wadim einen kurzen Urlaub zu machen. Sie flogen nach Gagra am Schwarzen Meer, dorthin, wo Boris Bibikow 25 Jahre zuvor verhaftet worden war. Mervyn war froh, der drückenden Hitze Moskaus und der Verzweiflung über Georges’ und Irinas anscheinend unheilbare Krankheit und ihre erzwungene Trennung zu entkommen. Im Süden war die Luft warm und voller Düfte, unberührt von der eintönigen Trostlosigkeit des sowjetischen Lebens. Die Einheimischen waren gastfreundlich und redselig; sie brauchten sich nicht mit einer Schutzschicht aus Unhöflichkeit gegen eine feindselige Welt zu panzern.
Mervyn entspannte sich. Die ganze Geschichte mit dem KGB würde vorübergehen, hoffte er, und Alexei hatte die Sache offenbar fallen lassen. Er hatte sich gehütet, je etwas Wadim gegenüber zu erwähnen, und glaubte immer noch ernsthaft, dieser habe nichts mit dem Anwerbungsversuch zu tun gehabt. Sie lagen am Strand von Gagra, Mervyns blasse Haut verbrannte unter der südlichen Sonne, und sie bummelten die Promenaden entlang. Mervyn fragte eine nette rundgesichtige Studentin, ob sie mit auf sein Zimmer käme, und sie folgte ohne Einwände.
Doch schon wenige Tage nach ihrer Ankunft wurde Mervyn ans Telefon gerufen. Alexei war dran und verkündete, er sei in Gagra. Er bestellte Mervyn zur Dämmerung an den Champagnerkiosk am Teich eines nahe gelegenen Parkes. Ihr Treffen inmitten der unregelmäßigen Schatten und quakenden Frösche war kurz, aber dramatisch. Alexei war elegant und gelassen wie immer und begrüßte Mervyn höflich. Ob Mervyn an diesem Abend noch frei sei? Gut. Ein weiteres Treffen sei für neun Uhr in einem Zimmer des Hotels vereinbart worden. Alexei drehte sich um und ging mit gleichmäßigen Schritten knirschend auf dem Kiesweg davon.
Mervyn erwartete kein vergnügliches Treffen, und das wurde es auch nicht. Alexei stellte Mervyn seinem »Chef« vor, Alexandr Fjodorowitsch Sokolow. Er war ein älterer, untersetzter Mann in einem schlechten sowjetischen Anzug und billigen Sandalen. Sokolow war ganz klar ein NKWD-Schläger der alten Schule, voller Verachtung für seinen jungen, geckenhaften Kollegen und den verwöhnten Ausländer.
Alexei leitete das Verfahren mit großer Feierlichkeit ein. Er sprach von Mervyns »Laufbahn« und seinen »Absichten«, darüber, wie die Sowjetunion die »einzige freie und gerechte
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