Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Tür geöffnet. An dieser klebte ein gestempelter Zettel mit dem Siegel des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, des NKWD. Sie wusste sofort, was das bedeutet. Die Nachbarn der Bibikows, die Familie eines Kollegen ihres Mannes, waren in der Nacht verhaftet worden.
Am nächsten Morgen lag große Müdigkeit in Martas Augen, als sie die kleine Ljudmila anzog, und ihre Stimme war herrisch, als sie den Kindern die Sommerhüte auf die Köpfe drückte und sie zum Einkaufen trieb.
Auf dem Weg zum Markt blieb Marta stehen, um Ljudmilas Schuh nachzubinden. Als sie in die Hocke ging, trat ein Mädchen in Leninas Alter leise zu ihr. Sie flüsterte Marta etwas ins Ohr und lief eilig wieder davon. Anstatt aufzustehen, sank Marta wie ein angeschossenes Tier auf dem Bürgersteig auf die Knie. Ihre Kinder versuchten erschrocken, sie aufzurichten. Nach wenigen Augenblicken hatte sie sich erholt, stand auf und eilte zurück nach Hause, Ljudmila, die stolpernd Schritt zu halten versuchte, hinter sich her ziehend. Jahre später erzählte Marta Lenina, was das Mädchen gesagt hatte: »Heute Nacht kommen sie mit einem Durchsuchungsbefehl.« Niemand wusste, wer das Mädchen war oder wer sie geschickt hatte.
Zurück in der Wohnung, fing Marta an zu weinen. Sie war in den zwölf Jahren ihrer Ehe nur einmal von ihrem Mann getrennt gewesen – als er in der Roten Armee diente, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Und jetzt war er weg und die Welt, die sie sich aufgebaut hatten, im Begriff, auseinanderzufliegen.
An jenem Abend gingen die Kinder hungrig zu Bett. Zum Abendessen hatte ihre Mutter nur hastig ein paar Reste zusammengeworfen. Marta konnte nicht schlafen, wie sie später Lenina erzählte, und wusch die halbe Nacht Wäsche. Dann saß sie am offenen Fenster und wartete auf das Auto. Kurz vor Morgengrauen schlief sie schließlich ein und hörte es nicht.
Marta wurde durch ein heftiges Klopfen geweckt. Sie sah auf ihre Armbanduhr; es war kurz nach vier Uhr morgens. Marta zog einen Morgenrock über und öffnete die Tür. Draußen standen vier Männer, alle in schwarzen Lederjacken mit Pistolengürteln und Lederstiefeln. Der Anführer zeigte ihr einen Durchsuchungsbefehl und einen Haftbefehl gegen ihren Mann. Er fragte, ob Bibikow zu Hause sei. Marta sagte Nein, er sei weg, und bettelte um eine Erklärung. Die Männer drängten sich an ihr vorbei und begannen, die Wohnung zu durchsuchen. Die Kinder wurden von ihren Stimmen geweckt. Ljudmila fing an zu weinen. Ein Mann öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, schaltete kurz das Licht an, schaute sich um und hieß die Kinder still sein. Ljudmila krabbelte zu Lenina ins Bett und weinte sich in den Schlaf. Ihre Mutter kam verwirrt herein und tröstete sie. Sie lauschten, wie nebenan Schubladen durchwühlt und Schränke ausgeleert wurden.
Die Männer blieben zwölf Stunden und durchsuchten systematisch jedes Buch, jede Akte in Boris’ Arbeitszimmer. Sie erlaubten Marta nicht, in die Küche zu gehen und den Kindern etwas zu essen zu machen. Lenina erinnert sich, dass ihre Gesichter »hart waren wie ihre Ledermäntel«. Als sie mit der Durchsuchung fertig waren, konfiszierten sie eine Kiste voller Dokumente, für die Marta unterschreiben musste. Die Beamten des NKWD versiegelten die vier Zimmer der Wohnung und ließen Marta und die Kinder in Nachthemden in der Küche. Nachdem sie die Tür zugeknallt hatten, brach Marta tränenüberströmt auf dem Fußboden zusammen. Ljudmila und Lenina fingen ebenfalls an zu weinen und umarmten ihre Mutter.
Als Marta die Fassung wiedererlangt hatte, ging sie ins Bad und wrang ein nasses Kleid aus. Sie wischte sich vor dem Badezimmerspiegel das Gesicht ab, wies Lenina an, sich um ihre Schwester zu kümmern, und ging aus dem Haus. In der Gewissheit, ihre Familie sei Opfer eines schrecklichen Fehlers geworden, lief sie zur örtlichen Zentrale des NKWD. Spät am Abend kam sie zu den Kindern zurück, mit leeren Händen und verzweifelt. Sie hatte praktisch nichts in Erfahrung gebracht, außer dass sie nur eine von Dutzenden panischen Ehefrauen war, die den ungerührten Rezeptionisten wegen ihrer vermissten Ehemänner bestürmt hatten, nur um zu hören, die Männer würden überprüft, und man würde die Frauen auf dem Laufenden halten.
Zu dem Zeitpunkt wusste Marta nicht, dass ihr Mann noch auf freiem Fuß und in einem Schlafwagen erster Klasse auf dem Weg nach Süden war, voller unschuldiger Vorfreude auf seinen wohlverdienten Urlaub im Sanatorium
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