Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
verschmäht sie.
Lenina, die Schwester meiner Mutter, ist genauso üppig, wie es ihre Mutter Marta gewesen war, mit breiten Hüften und großen Brüsten, der Rücken unter der Last der Probleme der Welt gebeugt. Sie hat Martas stechend blaue Augen. Meine Mutter auch, ich auch und mein Sohn Nikita auch. Doch ihr Temperament hat Lenina wohl eher von ihrem geselligen Vater Boris Bibikow geerbt. Sie liebt es, Freunde um den Küchentisch zu versammeln, zu plaudern, zu tratschen, Intrigen zu schmieden. Sie zieht gerne die Fäden und organisiert das Leben anderer in ausgedehnten Telefonaten. Sie liebt es, Fernsehmoderatoren über Telefon-Hotlines zu terrorisieren und Ladenbesitzer in persona. Sie ist eine große Frau mit einer kräftigen Stimme, und sie leidet an vielen, vielen, oft beinahe tödlichen Krankheiten, über die sie sehr gerne spricht.
Als sie den Tee einschenkt, stürzt sich Lenina in ihr Lieblingsthema: das bunte Liebesleben ihres Neffen. Ihre Augen beginnen mädchenhaft-lasziv zu leuchten. Ich habe Leninas Rolle der strengen alten Dame schon lange durchschaut. Sie ist nur eine der Waffen in ihrem umfangreichen Arsenal, das sie im täglichen Kampf gegen die Außenwelt auffährt. Am liebsten aber beugt sie sich auf ihrem Hocker an der Ecke des Tisches vor, stützt einen Ellbogen auf, fixiert ihren Neffen mit wachsamem Auge und will die neuesten Einzelheiten erfahren. Wenn es unanständig wird, gackert sie wie ein Marktweib.
»Du hast Glück, dass ich das alles nicht deiner Mutter erzähle«, gluckst sie. Obwohl sie es nie müde wird, ihre eigenen Töchter auszuschimpfen, kritisiert sie mich nur selten während unserer allwöchentlichen Tratschrunde. Stattdessen steuert sie lebenskluge und oft recht zynische Ratschläge bei. Meine Tante Lenina ist mir, obwohl ein halbes Jahrhundert älter als ich, eine wahre Freundin und Vertraute.
Lenina hat ein phänomenales Gedächtnis. Unsere Gespräche beginnen immer in der Gegenwart, aber verweilen dort nur flüchtig, da diese nicht bunt und dramatisch genug ist, um ihre Aufmerksamkeit lange genug zu fesseln. Schon mit dem nächsten Satz geht sie nahtlos in die Vergangenheit über und begibt sich auf eine nächtliche Wanderung durch ihre Erinnerungen. Wie beim Stühlerücken wird ihre Aufmerksamkeit mal hierhin, mal dorthin gezogen.
Mit zunehmendem Alter wird sie blinder und weniger mobil, doch ihre Vorstellungskraft scheint an Klarheit zu gewinnen. Die Vergangenheit ist ihr näher als die Gegenwart. Sie beklagt sich, dass sie nachts Besuch von den Toten bekommt. Sie lassen sie nicht in Ruhe – ihr Mann, ihre Eltern, ihre Freunde, ihre Enkelin Mascha, die mit 26 Jahren an Krebs starb. Sie alle streiten, schmeicheln, lachen, meckern und gehen ihren Beschäftigungen nach, als merkten sie nicht, dass sie tot sind. Sie sieht die Vergangenheit in ihren Träumen, unablässig. »Es ist wie im Kino«, sagt sie. Zum Ende ihres Lebens hin erscheint ihr sein Anfang lebendiger als je zuvor. Einzelheiten tauchen auf, Gespräche, Begebenheiten, Geschichten, Schnipsel eines Lebens als winzige Filmclips, die sie chronologisch aufschreibt, um sie mir bei meinem nächsten Besuch zu erzählen. Sie weiß, ich kenne die handelnden Personen inzwischen so gut, dass sie sie nicht mehr erklären muss.
»Hab ich dir erzählt, was mir zu Onkel Jascha und den Mädchen, die er in seinem Mercedes abgeholt hat, wieder eingefallen ist? Was Warja gesagt hat?«, fragt sie am Telefon, und ich weiß sofort, dass sie über ein legendär unmoralisches Automobil spricht, das mein Großonkel Jakow 1946 aus Berlin verschiffen ließ, und über den Zorn, den dies in meiner Großtante entfachte. »Sie war so zornig, dass sie alle Blumentöpfe im Haus nach ihm warf und das Geschirr aus der Küche. Jascha konnte nicht aufhören zu lachen, selbst als ihm die Teller um die Ohren flogen. Und das machte sie erst recht wütend!«
Lenina sieht die Welt durch Gespräche, Stimmen, Menschen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, meiner lesewütigen Mutter, liest sie nicht viel. Sie ist eine Schauspielerin, der Küchentisch ihre Bühne und die stetig wechselnden Freunde, Bittsteller, ehemaligen Studenten, Nachbarn und Verwandten sind ihr Publikum.
Die Geschichte von Ljudmila und Lenina beginnt in einer anderen Küche, im Hochsommer 1937 in einer schmucken Wohnung mit hohen Decken im Zentrum von Tschernigow. Die großen Fenster standen weit offen und ließen die kühle Brise von der Desna herein. In einer Ecke spielte
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