Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Schnauben und ihre wegwerfenden Gesten werden begleitet von bewunderndem Luftholen und verzückt an die Brust gedrückten Händen, wenn sie ein neues Thema ansteuert wie ein Rennfahrer, der um die nächste Kurve rast. »Ha, Nabokov!«, sagt sie mit geschürzten Lippen und hebt eine Augenbraue, damit alle Anwesenden wissen, dass sie ihn für einen unverbesserlichen Aufschneider und eine kalte, herzlose und gekünstelte Person hält. »Ach, Charms«, sagt sie und hebt eine Handfläche zum Himmel, um zu zeigen: Das ist ein Mann, der Russlands Absurdität, Pathos und tägliche Tragödie wirklich versteht. Wie viele russische Intellektuelle ihrer Generation ist sie in der Kasba der Literatur ihres Landes ganz und gar zu Hause und findet ihren Weg durch die Gassen wie eine Einheimische. Ich habe meine Mutter immer bewundert, doch in solchen Momenten, wenn sie eine ganze Tischgesellschaft in Atem hält, erfüllt mich unbändiger Stolz auf sie.
Milan Kundera schrieb einmal: »Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen.« Und so ist es auch für meine Mutter, wenn sie diese Geschichte erzählt. Sie hat selten mit mir über ihre Kindheit gesprochen, als ich selbst noch ein Kind war. Doch als ich sie als Erwachsener danach fragte, begann sie freimütig zu erzählen, ohne dabei melodramatisch zu werden, mit verblüffender Sachlichkeit und Aufrichtigkeit. Doch zugleich sorgt sie sich, die Geschichte könne zu düster, zu bedrückend werden, wenn ich sie erzähle. »Schreib über die guten Menschen, nicht nur über das Dunkel«, sagte meine Mutter zu mir. »Ich habe so viel menschliche Güte erlebt, so viele wunderbare, seelenvolle Menschen.«
Ein letztes Bild meiner Mutter, ehe wir ihre Geschichte erzählen: Sie ist 72 Jahre alt und sitzt an einem sonnengesprenkelten gedeckten Mittagstisch. Wir sind im Haus eines Freundes auf einer Insel in der Nähe von Istanbul, auf einer luftigen Terrasse mit Blick über das Marmarameer. Meine Mutter hockt seitlich auf dem Stuhl, wie sie es wegen ihrer Hüfte immer tut, die eine Tuberkulose in ihrer Kindheit verkrüppelt hat. Unser Gastgeber, ein türkischer Schriftsteller, ist braun gebrannt wie ein antiker Meeresgott. Er schenkt Wein ein und reicht Platten mit selbst gesammelten Muscheln und Speisen, die sein fantastischer Koch zubereitet hat.
Meine Mutter ist entspannt und so hinreißend, wie sie eben sein kann. Unter den Gästen ist auch eine türkische Balletttänzerin, eine große, wunderschöne Frau mit dem langgliedrigen Körperbau einer Tänzerin. Sie und meine Mutter sprechen voller Leidenschaft über das Ballett. Ich sitze am Ende des Tisches und rede mit unserem Gastgeber, als ich höre, wie sich der Ton meiner Mutter verändert; nicht dramatisch, es ist nur eine Nuance. Doch die winzige Veränderung ist über die verschiedenen Gespräche am Tisch hinweg hörbar, und wir drehen uns um und hören zu.
Sie erzählt eine Geschichte über Solikamsk, eine Stadt der verlorenen Kinder im Krieg, in die sie 1943 evakuiert wurde. Die Lehrerin der überfüllten Schule, die sie besuchte, brachte ein Tablett mit Schwarzbrot für die Kinder zum Mittagessen. Sie sagte den Kindern aus dem Ort, sie sollten ihre Stücke den Waisenkindern geben, obwohl sie alle am Verhungern waren.
Meine Mutter erzählt die Geschichte mit einfachen Worten, ohne großes Pathos. Sie sieht niemanden an. Um ihre Lippen spielt ein schmerzliches Lächeln. Mit ihren beiden beiden Zeigefingern zeigt sie uns, wie groß die Brotstücke auf dem Tablett waren. Aus ihren Augen strömen Tränen. Auch die Tänzerin fängt an zu weinen und umarmt meine Mutter. Ich kenne die Geschichte schon, und doch bin ich erneut erschüttert darüber, welch ganz normales Wunder das Leben und das Schicksal für uns bereithält – dass jenes hungrige Kind aus dem winterlichen Klassenzimmer im Krieg dieselbe Person ist, die nun hier an diesem heißen Nachmittag bei uns sitzt, als sei sie aus einer anderen, unendlich fernen Welt zu uns in unser sorgloses, modernes Leben gestoßen.
Die Küche meiner Tante Lenina am Frunsenskajaufer an einem hellen Moskauer Sommerabend Ende der Neunzigerjahre. Ich sitze auf dem breiten Fenstersims und rauche eine Zigarette nach dem gewaltigen, fettigen Mahl, das ich mindestens fünf Mal loben musste, ehe sie überzeugt ist, dass ich zufrieden war. Lenina kocht in ihrem alten Emaillekessel Wasser. Den deutschen Wasserkocher, den ihre Töchter ihr geschenkt haben,
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