Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Großmutter Marta. Als sie uns 1976 besuchen kam, verließ sie zum ersten und einzigen Mal die Sowjetunion und flog auch zum ersten Mal in einem Flugzeug. Vor dieser Reise nach England war ihre längste Fahrt die als Gulag-Gefangene gewesen, im Zug nach Kasachstan und wieder zurück. In die schweren Koffer, die sie nach London mitbrachte, hatte sie ihre eigene dicke Baumwollbettwäsche gepackt, wie es bei sowjetischen Reisenden üblich war.
Der Parteigenosse. Offizielles Foto aus Boris Bibikows Parteiausweis, aufgenommen 1936. Auf dem Bild ist er 36 Jahre alt und war gerade zum Vorsitzenden des Regionalausschusses der Kommunistischen Partei in Tschernigow ernannt worden.
Martas Bewegungen waren unglaublich schwerfällig, als sei der Körper ihr eine Last. Zu Hause trug sie billige sowjetische bedruckte Kleider und Pantoffeln; wenn sie ausging, zog sie ein muffiges Tweedkostüm an. Sie lächelte fast nie. Beim gemeinsamen Abendessen saß sie düster und teilnahmslos am Tisch, so als missfiele ihr der bürgerliche Luxus, in dem ihre Tochter lebte. Einmal, als ich mit Messer und Gabel Schlagzeug auf dem Tisch spielte, schimpfte Marta mich mit unvermittelter Wut so aus, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich war nicht traurig, als sie wieder abreiste. Sie verabschiedete sich tränenreich von uns, was mir peinlich war. »Ich werde dich nie wiedersehen«, sagte sie zu meiner Mutter, und sie sollte recht behalten. Für mehr blieb keine Zeit, mein Vater wartete bereits draußen in seinem orangefarbenen VW-Käfer, um sie nach Heathrow zu bringen.
Heute denke ich oft an Marta und versuche, unter den vielen Schichten aus Gerüchten und Erwachsenenwissen, die sich um ihr Bild in meinem Kopf gelegt haben, meine eigenen Erinnerungen an sie wachzurufen. Ich versuche, mir das hübsche, aufblühende Mädchen vorzustellen, das Boris geheiratet hat. Und ich frage mich, wie sie eine Tochter haben konnte, die so lebhaft und lebensfroh war wie meine Mutter. Nun, da ich einen Teil von Martas gebrochener Lebensgeschichte kenne, verstehe ich, dass etwas in ihrer Seele geschehen war, was bewog, das sie all ihre Energie und Lebenskraft gegen sich selbst richtete. Sie hasste die Welt, und da ihr selbst alles Glück verwehrt geblieben war, versuchte sie, es auch in denen zu zerstören, die um sie waren. Ich war ein kleiner Junge, als ich sie kennenlernte, doch schon damals sah ich, wie tot ihre Augen, spürte, wie hölzern ihre Umarmungen waren. Da war etwas Furchterregendes, Kaputtes um sie.
Der Zug in Simferopol brachte Marta nach Westen, nach Kurman Kimiltschi. Sie hatte gehört, dass es dort Arbeit geben sollte, und so stieg sie aus auf den staubigen Bahnsteig und ging zum Büro der Kolchose. Man wies ihr eine Pritsche in einer schäbigen Baracke für Wanderarbeiter zu. Und dort begegnete sie dem jungen Kommissar Boris Bibikow.
Das Liebesverhältnis von Marta und Boris führte zu einer revolutionären Ehe. Er war ein aufsteigendes und gebildetes Mitglied der neuen revolutionären Elite, sie ein einfaches Bauernmädchen mit tadellosen proletarischen Referenzen. Mag sein, dass Bibikows Wahl zu einem gewissen Grad Berechnung war. Aber noch wahrscheinlicher war es eine Mussheirat, das Ergebnis eines Flirts auf der Krim im hohen Gras einer Wiese in einer heißen Sommernacht.
Ihre erste Tochter kam sieben Monate, nachdem sie »unterschrieben« hatten – die neue Bezeichnung für die Zivilehe –, im März 1925 zur Welt. Bibikow nannte sie Lenina, nach dem kürzlich verstorbenen Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin. Als Lenina acht Monate alt war, trat ihr Vater seinen Militärdienst bei der Roten Armee an. Marta zeigte Lenina stets die Briefe, die Bibikow nach Hause schickte, und sagte: »Papa.«
Als Bibikow dann nach Hause zurückkehrte, war Lenina zwei Jahre alt und weinte, als der fremde Mann ins Haus kam. Marta erklärte ihr, Papa sei wieder da. Die kleine Lenina sagte: »Nein, das ist nicht Papa!« und wies auf die Blechkiste, in der Marta die Briefe ihres Mannes aufbewahrte. »Das ist Papa, da drin!« Es war wie eine kindliche Vorahnung des Tages, an dem Boris aus der Tür und aus ihrem Leben verschwinden würde – um sich wieder in einen Stapel Papier zu verwandeln.
Boris Bibikows Leben wird eigentlich erst 1929 deutlicher, als Leninas Erinnerungen an ihn einsetzen und das Projekt begann, dem er seine Karriere widmete und das ihm zu einer gewissen Größe verhelfen sollte. Im April jenes Jahres verabschiedete
Weitere Kostenlose Bücher