Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
ihrer selbst. Das ist die Jana, die mir geblieben ist – nicht die fantastische Jana von Bogdans Party, sondern die ungeschminkte Jana in einem russischen Parka von mir und seidenen Cargohosen, wie sie in dicken Stiefeln durch Moskau stapft, in gnädiger Unerkanntheit.
Irgendwann geschah, was ich immer erwartet hatte: Sie schien das Interesse an mir zu verlieren, und ich drängte mich nicht auf. Ich begründete es vor mir selbst damit, dass ich meine sexuelle Energie lieber auf Erdenbewohner konzentrierte als auf himmlische Wesen wie Jana.
Doch als Jana und ich uns nicht mehr sahen, verfiel ich ins Grübeln, in eine stumpfe Antriebslosigkeit. Sie hätte eine perfekte erste Ehefrau abgegeben, scherzte ich meinem besten Freund und Journalistenkollegen Matt Taibbi gegenüber. Meine alte Wohnung erinnerte mich zu sehr an mein Leben vor Jana, zu verhaftet im Jünglingsalter. Also zog ich für ein paar Tage in die Wohnung eines Freundes, der gerade unterwegs war, und saß tagelang rauchend auf seinem scheußlichen alten Sofa. Ich verspürte das Bedürfnis, den Augenblick mit einem masochistischen Akt zu begehen, und so bat ich Matt, mir seine Haarschneidemaschine vorbeizubringen. Im zehnten Stock am Panoramafenster der Wohnung mit Blick auf den Kreml rasierte ich mir den Schuljungenlook vom Kopf. Meine Haare fielen in dichten Büscheln auf die Zeitungen, die ich um den Stuhl herum ausgebreitet hatte.
Der Schmerz meines Entschlusses, Jana kampflos gehen zu lassen – mich für das Später anstelle des Jetzt zu entscheiden –, reichte tiefer, als ich dachte. Ich hatte es nicht geschafft, mich aus der Zwangsjacke der Vernunft zu befreien, als Jana und ihre Welt der extravaganten Tollheit riefen, und dieses Wissen brannte auf meinen Wangen wie eine Schmach. Es schien mich altern zu lassen – umso mehr, als ich wusste, dass die Zeit diese Wunde fast spurlos heilen würde und ich weiterleben würde wie zuvor. Ich war verbittert, weil meine jugendliche Unangepasstheit so brutal als brüchiger Schein entlarvt worden war, und gedemütigt, weil mir schmerzhaft bewusst war, dass ich Jana in Wahrheit verloren hatte, weil ich nicht Manns genug war, sie zu halten. Die Erkenntnis war brutal, und ich lief vor ihr davon, indem ich mit aller Macht wieder zu den schäbigeren Gewohnheiten meines alten Lebens zurückkehrte, den Schmerz durch Sex zu betäuben und die Demütigung durch Prahlerei zu negieren suchte. Eine Zeit lang funktionierte das auch.
Nach einem halben Jahr oder so verblasste die Intensität meiner Gefühle, und ich spürte nur noch einen leichten Stich, wenn ich ihr Foto in der Ptjutsch oder sonst einer angesagten Zeitschrift sah, die sich den Eskapaden der Klubkids der Stadt widmete. Ich war ein neuer Freund, der dazu bestimmt war, niemals ein alter zu werden – zu wenig Zeit, so viele Leute und Partys. Doch ich ging davon aus, dass irgendwo unter tausend abgelegten Leuten, Eindrücken, Partys, irgendwo in dem fantastischen Kaleidoskop ihres Schmetterlingshirns, mein Bild gespeichert war.
Jana war zu schön, zu überirdisch perfekt zum Leben, und so überraschte es mich seltsamerweise wenig, als ein gemeinsamer Bekannter eines Abends im Herbst 1996 noch spät anrief und mir erzählte, dass man sie irgendwo in einer abgelegenen Metrostation in Moskaus grauen Vorstädten gefunden hatte – vergewaltigt und ermordet. Niemand – und am wenigsten die Polizei – hatte eine Ahnung, wer sie hätte töten wollen.
Selbst vor ihrem Tod konnte ich sie nie anders sehen als ein Kind ihrer Zeit, pulsierend im tiefen, dem Untergang geweihten Rhythmus eines bestimmten Augenblicks. Ich konnte sie mir nie an einem anderen Ort als Moskau vorstellen oder alt oder gelangweilt oder zynisch oder dick oder verheiratet. Und so erschien es mir irgendwie richtig, dass Russland sie schließlich geschluckt hatte.
Sie war so pervers fröhlich und optimistisch gewesen, während alles um sie herum log und starb. Doch die Wirklichkeit holte sie schließlich von ihrer Wolke, wie Ikarus, und zerrte sie herunter in ihre dunklen Eingeweide. Sie starb verletzt, vergewaltigt und voller Angst in der Nähe einer abgelegenen Metrostation, erwürgt – von einem Fremden, einem Liebhaber? Wer weiß? Wäre sie eine Figur in meinem Roman gewesen, hätte ich sie auch getötet.
Mervyn kehrte im Spätsommer 1963 in die Sowjetunion zurück, drei Jahre nachdem er sie verlassen hatte. Über das St Anthony’s war es ihm gelungen, an einem weiteren
Weitere Kostenlose Bücher