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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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zu zeigen, als suche sie etwas, was an sie erinnerte. Als sie nichts fand, wandte sie sich um, und wir verließen die Wohnung. Sie schien nicht weiter berührt, und so gingen wir einkaufen.

    Damals wohnte ich selbst in der Starokonjuschenny-Pereulok. Das konstruktivistische Gebäude war Anfang der Dreißigerjahre erbaut worden, und die langen, schmalen Räume meiner Wohnung hatten seltsam verwinkelte Wände und Fenster. Es lag nur 250 Meter von der alten Wohnung meiner Mutter in der Nähe des Arbat entfernt. Abends lief ich durch die verlassenen Seitenstraßen bis zur Rylejewstraße, wo Waleri Golowister gewohnt hatte und wo sich meine Eltern zum ersten Mal begegnet waren. Ich ging den Gogolewskiboulevard hinunter, auf dem sie Arm in Arm spazieren gegangen waren, zur Metrostation Kropotkinskaja und die Siwzew-Wraschek-Straße hinauf, über die meine Mutter zum Einkaufen ins »Gastronom Nr. 1« gegangen war. Diese Straßen waren für meine Eltern voller Erinnerungen, doch mir sagten sie nichts. Ich hatte ihre Briefe noch nicht gelesen, mich noch nicht für ihr früheres Leben interessiert; ich fühlte damals keine Verbindung zwischen ihrem Moskau und meinem. »Mervyn, stellst Du Dir vor, wie ich durch die Pfützen des nächtlichen Moskau zu unserem Zuhause auf dem Arbat gehe?«, schrieb meine Mutter Ende 1964 an meinen Vater. Er tat es. Und ich tue es jetzt auch.

    In ihrem kleinen, dunklen Zimmer mit dem schmalen Fenster schuf sich Mila etwas, was sie nie zuvor gehabt hatte – ein Zuhause. Dann, als Mervyn in ihrem Leben auftauchte, schuf sie sich eine Familie.
    »Im Herbst 1963 sah ich Dich zum ersten Mal«, schrieb Mila ein Jahr später. »Ich spürte eine Art inneren Impuls, eine flüchtige, sengende Gewissheit, dass Du genau der Mensch seist, in den ich mich endlich wirklich verlieben würde. Es war, als habe sich ein Stück meines Herzens abgelöst und ein eigenes Leben in dir begonnen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Schon nach kurzer Zeit verstand ich Dich und kam Dir so nah, als wäre ich schon Dein Schatten gewesen, als Du Deine ersten Schritte in dieser Welt machtest. Alle Schranken brachen – politisch, geografisch, national, sexuell. Die ganze Welt war für mich in zwei Hälften geteilt – die eine wir (Du und ich), die andere – der Rest.«
    Die Einzelheiten der neun Monate, die meine Eltern zusammen in Moskau verbrachten, haben überlebt, weil sie in den sechs Jahren ihrer erzwungenen Trennung in ihren Briefen jedes ihrer Gespräche bis ins kleinste Detail noch einmal erlebten. Fast jede Minute und jeder Tag ihrer wenigen Monate zusammen wurden noch einmal besucht und liebevoll untersucht wie ein Andenken. Jede kleine Kabbelei, jedes Gespräch, jedes Liebesspiel und jeder Spaziergang wurden in Milas Geist aufgeführt, nachgespielt und diskutiert, Wörter und Sätze erinnert und analysiert, produziert als lebender Beweis dafür, dass all das nicht nur ein Traum gewesen war, dass sie eine Zeit lang tatsächlich ein Zuhause, einander gehabt hatten. »Buchstäblich jedes Detail unseres gemeinsamen Lebens geht mir durch den Kopf«, schrieb Mila. »Ich lebe für die Erinnerung an jene Zeit.«
    An den Winterabenden, auf dem Weg von der Lenin-Bibliothek zurück zur Universität, schaute Mervyn bei Waleri Golowister vorbei, um zu plaudern oder ein paar neue Schallplatten abzuholen, drückte sich dann in einen Hauseingang, um seine KGB-Verfolger abzuschütteln, und stand vor Milas Tür. Dort machte er es sich auf dem Diwan bequem und las, während sie in der Küche Stör briet, Mervyns Lieblingsfisch. Nach dem Essen gingen sie lange auf den Boulevards und in den Seitenstraßen spazieren und redeten bis spät in die Nacht. Er liebte ihre selbst gemachte Konfitüre, die sie ihm auf ihren vorrevolutionären Tellern von Gardner servierte. Sie hatte sie in einem Antiquitätengeschäft gefunden und nahm sie später auch mit nach London. Milas Zimmer mit dem Diwan, dem kleinen Tisch und dem Kleiderschrank wurde ihr Liebesnest, während die Nachbarn im Zimmer nebenan wilde Partys feierten und Akkordeon spielten.
    Ihre Romanze war für sie beide eine Heimkehr – zwei einsame, lebensferne Menschen ohne Liebe fanden aneinander, was ihnen ihr ganzes entwurzeltes Leben lang gefehlt hatte. Mila war 29 Jahre alt und mit den romantischen Fantasien der sowjetischen Filme und Literatur groß geworden. Die meisten ihrer Freunde und ihre Schwester hatten geheiratet, ehe sie 20 waren. Mila hatte zwar Liebschaften gehabt

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