Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Plötzlich sah man junge Männer mit Cäsarfrisur und Pullovern von DKNY, wo vorher noch rote Blazer und Bürstenhaarschnitt angesagt waren. An der Stelle von alten Lebensmittelläden machten Internetcafés auf, in denen auch trendige Klamotten verkauft wurden. Glänzende neue Einkaufspassagen in Chrom und Marmor schossen wie Pilze aus dem Boden, komplett mit Glasaufzügen und Geldautomaten, aus denen man Dollars ziehen konnte. Nach einer Weile gewöhnte ich mich so an das Tempo der Veränderung, dass es mir normal erschien – eine restaurierte Kirche hier, eine neue Firmenzentrale da, wie Pilze nach dem Regen. Im Vergleich dazu wirkte London wunderlich statisch. Das übrige Russland mochte sich stillschweigend auflösen, doch Moskau fraß sich fett an den Resten des ausgeplünderten Reiches.
Immer, wenn ich auf der Suche nach entsetzlichen Geschichten für meine Artikel durch die Eingeweide Moskaus streifte, verwandte ich viel Energie darauf, auf Partys zu gehen. Mein Vater hatte sich damit amüsiert, lärmende Zigeunerrestaurants zu besuchen. Eine Generation später hatten plötzliches Geld und die neue Freiheit die Moskauer Partyszene in etwas sehr Reiches und Seltsames verwandelt. Im Club 13 in einem baufälligen Palast hinter der Lubjanka wurde man auf der Treppe von Zwergen in Miniweihnachtsmannkostümen mit neunschwänzigen Katzen ausgepeitscht. Vor dem Titanic, einem beliebten Treff reicher Verbrecher, standen ganze Flotten schwarzer Mercedes-Limousinen, und drinnen warteten scharenweise Mädchen an bullaugenförmigen Tischen darauf, von specknackigen Verehrern angemacht zu werden. Im Chance schwammen nackte Männer in riesigen Aquarien, nur durch eine Glasscheibe von den Gästen getrennt. Und im Kasino Fire Bird habe ich mal in Gesellschaft von Chuck Norris, dem alternden Filmstar, und seinem Gast Wladimir Schrinjowski, dem ultranationalistischen Politiker, getrunken.
Manchmal wagte ich mich in eine Bar namens Hungry Duck. Zur »Ladies’ Night« durften von sechs bis neun Uhr nur Frauen hinein und einige wenige Freunde des Besitzers, die hinter der Bar arbeiteten. Jede Frau bekam kostenlos so viel Alkohol, wie sie nur wollte, und so war die Bar jedes Mal zum Platzen voll mit etwa 600 verschwitzten Teenagern, die schneller soffen, als wir einschenken konnten.
» Matthews, dieser undankbare Junge.« Alexei Sunzow, Mervyns KGB-Führungsoffizier, der ihm die Wunder des Sozialismus zeigte, ihn aber nicht dazu bringen konnte, sein Land zu verraten. Seine Witwe, Inna Wadimowna, gab Mervyn 1997 dieses Foto.
Der Geruch nach slawischen Pheromonen stand im Raum, und der Anblick kreischender Frauen, die die kreisrunde Bar von allen Seiten belagerten, war so furchteinflößend, als müssten wir Rorke’s Drift gegen die vorrückenden Zulus verteidigen. Männliche Stripper stolzierten auf der Bar herum, holten sich Mädchen aus dem Publikum und zogen sie über den Zapfhähnen aus. Doug Steele, der kanadische Besitzer, dessen Gesicht im Licht der Kasse ein mephistophelisches Grün annahm, beugte sich auf seine muskulösen Arme gestützt vor und beobachtete das Durcheinander mit stiller Befriedigung, wie Colonel Kurtz in seiner Station. Wenn um neun dann die Männer hereindurften, rutschten betrunkene Mädchen mit entblößtem Busen von der biernassen Bar und knallten auf den Boden, wo Sicherheitsleute sie aufsammelten und in einer Reihe im Foyer ablegten. Sehr bald brachen heftige Kämpfe aus; bösartig wurden Augen ausgestochen, Flaschen zerschlagen, Biergläser geschmissen und Knochen gebrochen. Die bewusstlosen Verlierer gesellten sich am Ende zu den Betrunkenen unten im Foyer.
Einmal ging ich auf eine Party von Bogdan Titomir, Russlands berühmtestem Rapper, in seinem Apartment mit Disco, wo die Fensterscheiben zur Musik aus der PA-Anlage klirrten und Paare sich zum Knutschen in seinen draußen geparkten Hummer schlichen. Als ich Jana zum ersten Mal sah, schlängelte sie sich durch den Rauch, von hinten erleuchtet vom pulsierenden Licht des Stroboskops, vorbei an den Blondinen auf Bogdans stahlblauem Sofa, den verschlungenen Körpern hinter den halb zugezogenen Vorhängen eines Erkers, auf einen Tisch voller Kokain zu. Sie trug einen winzigen Minirock, bedruckt mit Fornasetti-Augenpaaren, die zu dem seltsamen Glanz passten, die ihre Augen im ultravioletten Licht über dem Tisch annahmen. Geschickt zog sie eine Linie, dick wie ein Galgenstrick. Dann warf sie ihr blondes Haar zurück und sah mir direkt in die
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