Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
und war trotz ihrer verkrüppelten Hüfte bei den Männern begehrt, doch sie hatte nie jemanden gefunden, der ihren hohen Ansprüchen genügte.
Doch nun, plötzlich, wie durch eine höhere Gewalt, trat dieser Fremde mit dem langen Rücken, dieser verträumte, schüchterne Russophile mit den schmalen Fingern und vorsichtigen Vokalen in ihr Leben, so ernst und unschuldig (trotz seiner sündigen Fehltritte in Gesellschaft von Wadim und Schein), so verloren, so verliebt in Russland, doch ohne ein Zuhause dort. Sie sollte die Verkörperung all dessen werden, was er an Russland liebte, seine Leidenschaft und sein Feuer.
Mervyn passte genau in die Lücke in Milas Leben. Er gab ihrer Existenz einen Sinn, er war es, was ihr gefehlt hatte, um ganz zu sein, um die Schrecken ihrer Kindheit und die Einsamkeit ihres Erwachsenenlebens zu heilen. Sie wurde die intelligente Mutter, die sie nie hatte. Er wurde ihr Sohn, das Kind, das sie nährte, weil sie nie genährt wurde, als könne sie dadurch, dass sie ihn heilte, sich selbst heilen und alles für sie beide richten. Nach einem Leben voller Entbehrungen war Mervyn Milas Erlösung.
»Das Leben kann nicht so grausam und ungerecht sein, wenn es Dich mir gegeben hat«, schrieb Mila ihm später, als sie auf entgegengesetzten Seiten des Eisernen Vorhangs lebten. »Aus irgendeinem Grund bin ich in Dich eingezogen, und nichts wird mich von so einem warmen Plätzchen wieder vertreiben. In der Welt ist so wenig Wärme und Liebe, dass ich nicht einmal einen Krümel davon verlieren darf, den Du gefunden hast.«
Mervyn war Milas erste Liebe, und diese Liebe hatte all die moralische Reinheit und absolute, traumhafte Klarheit der Heranwachsenden. Mila hatte zu wenige echte menschliche Bezugspunkte für ihr Gefühlsleben, dafür aber sehr viele literarische. Die Sprache der Liebe war für sie melodramatisch, naiv und ein bisschen kindisch, doch darunter lag eine sprudelnde Leidenschaft, die ganz ihr Eigen war. Es war keine erotische Leidenschaft, sondern eine Leidenschaft, getrieben von der schrecklichen Furcht, verlassen zu werden und diese ihre einzige Chance zu verlieren, ihr unglückliches Leben zu tilgen und mit einem Streich alles Leiden zunichtezumachen.
Für Mervyn war es ein bisschen anders. Er sah gut aus, und die Russinnen mochten ihn, flirteten mit ihm, gingen mit ihm ins Bett. Doch er hatte nie Scheins Inbrunst oder Hunger nach Frauen. Frauen machten ihn schüchtern, und er konnte den lässigen Charme seiner russischen Freunde nicht aufbieten, ihre Prahlerei, ihr verführerisches Selbstvertrauen. Doch dann kam Mila, die Frau mit dem verkrüppelten Körper und der schönen Seele, hingebungsvoll, nicht bedrohlich, intellektuell unabhängig, zuerst Verbündete und Freundin und dann Frau, und doch ausgestattet mit einem offenbar unendlichen Vorrat an Liebe, die sie über ihn ergoss. »Ich will Dir ein gutes, gesundes Leben bieten, ein Zuhause, gutes Essen«, schrieb Mila später über ihre Pläne für eine gemeinsame Zukunft. »Es wird mich so erfüllen, Dir bei Deiner Arbeit zu helfen. Ich bin mir sicher, dass wir eine richtige Familie werden können, zusammengehalten durch Liebe und Freundschaft, gegenseitiges Verstehen, Einanderhelfen. Alles, was wir haben, haben wir durch unsere eigene Arbeit, unseren eigenen Verstand. Zusammen können wir alles erreichen.«
Das Wichtigste aber war vielleicht, dass Mila Mervyns schmerzvolle Vergangenheit verstand wie noch nie jemand zuvor. »Ich sehe Deinen Wunsch, der Armut zu entkommen, aus der Anonymität in die große Welt zu treten«, schrieb sie. »Ich sehe, wie Du, allein und ohne Förderer und ohne einen vorgezeichneten Weg, Dein Leben meisterst, seine Höhen bezwingst; ich verstehe Deine Vorlieben, Deine Interessen, Deine Schwächen.«
Es gab einen Moment, an einem matschigen Februarabend, da verließen Mervyn und Mila zusammen die Wohnung in der Starokonjuschenny-Pereulok und gingen zum Gogolewskiboulevard. Mervyn musste nach rechts zur Metrostation Kropotkinskaja abbiegen, Mila nach links, um Freunde zu besuchen. Sie umarmten sich, und als sie im Dämmerlicht davonging, begriff Mervyn plötzlich, dass er diese schiefe Gestalt zutiefst liebte und sich eine Zukunft ohne sie nicht vorstellen konnte.
Er hatte keine Ahnung – wie sollte er auch –, wie erbittert sie in den kommenden Jahren für diese Liebe würden kämpfen müssen und wie tiefgreifend dies sein Leben verändern würde. Seine Liebe zu Mila, wie seine Liebe zu
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