Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
worden. Louis kämpfte tapfer für ihre Sache und setzte der Stellvertreterin zu, sie solle einen »triftigen rechtlichen Grund« für ihre Weigerung nennen. Doch die Bürokraten verlegten sich auf die bewährte sowjetische Taktik, stundenlang gar nichts zu tun, und so wich die Energie der Bittsteller irgendwann der Verzweiflung. Als es Abend wurde, gingen alle nach Haus.
Der fehlgeschlagene Öffentlichkeitscoup würde unvermeidlich eine Vergeltungsmaßnahme nach sich ziehen, und so tauchte mein Vater in Ljudmilas Wohnung unter. Als die Auslandspresse erfuhr, dass man ihn in seinem Zimmer in der Universität vermisste, berichtete sie, er sei verschwunden. Zwei Tage lang klammerten sich Mila und Mervyn an der Hoffnung fest, ein Wunder würde geschehen, und die furchtbaren Stürme, die vor ihrer dünnen Zimmertür wüteten, würden vorüberziehen. Mila meldete sich zwei Wochen lang bei der Arbeit krank, und die beiden gingen Arm in Arm auf dem Arbat spazieren oder schlossen sich in ihrem kleinen Zimmer ein und redeten. Doch das Gemeinschaftstelefon der kommunalka machte ihren verzweifelten Versuch, die Zeit anzuhalten, zunichte. Mervyn wurde dringend in die Botschaft einbestellt.
Ein Diplomat und einer der hauseigenen Spione der Botschaft erwarteten ihn bereits am Eingang und brachten ihn hinunter in die »Blase«, einen angeblich abhörsicheren kleinen Raum, in dem sie ungestört reden konnten. Hier wurde Mervyn darüber informiert, das Außenministerium habe Gründe, anzunehmen, Mila sei eine KGB-Spionin. Beweise für diese Behauptung wurden nicht dargelegt. Es folgte ein Augenblick, an den Mervyn sich später als einen der stolzesten seines Lebens erinnern sollte, stolzer noch als seine Weigerung, für Alexei zu arbeiten: Er stand angewidert auf und verließ den Raum und die Botschaft ohne ein weiteres Wort.
Sein Ekel war echt, seine Tapferkeit jedoch aufgesetzt. Verzweifelt und voller Panik angesichts der drohenden Katastrophe nahm mein Vater den Trolleybus zurück in seine kleine Zufluchtsstätte in der Starokonjuschenny-Pereulok, um dort auf das Unvermeidliche zu warten. Am darauffolgenden Tag, dem 20. Juni, brachten zwei Beamte der britischen Botschaft einen Brief. Die Anwesenheit so vieler Ausländer sorgte für große Aufregung unter Milas tuschelnden Nachbarn.
In dem Brief wurde meinem Vater mitgeteilt, die Botschaft habe ein offizielles Schreiben vom Außenministerium der Sowjetunion erhalten, in dem stand, ein gewisser William Haydn Mervyn Matthews, Doktorand, werde nun in der Sowjetunion als Persona non grata betrachtet und müsse das Land sofort verlassen. Minuten später standen ein uniformierter Milizionär und ein druschinnik , ein Helfer in Zivil, vor der Tür. Mervyn habe unangemeldet in der Wohnung gewohnt, erklärte der Milizionär, und müsse mit ihnen gehen. Er hatte keine Wahl.
Sie fuhren zügig durch das Zentrum Moskaus – die Straßen waren damals noch fast verkehrsfrei –, umrundeten den Lubjankaplatz, den Mervyn einen schrecklichen Moment lang für das Ziel der Fahrt hielt, und fuhren die Tschernyschewskistraße entlang zur OWIR, der Abteilung für Visa und Registrierung. Dort wurde Mervyn förmlich mitgeteilt, sein Visum sei abgelaufen, und er müsse das Land sofort verlassen. Ein anwesender Mitarbeiter der britischen Botschaft erklärte sich bereit, ihm für den folgenden Tag, den 21. Juni 1964, einen Platz in dem überfüllten Flugzeug nach London zu besorgen. Mervyn war so angeekelt, dass er sich weigerte, auch nur ein Wort Englisch zu sprechen, und so den Botschaftsmitarbeiter zwang, sich jedes Wort des Gesprächs mit den Beamten mühsam übersetzen zu lassen.
Sie verbrachten ihre letzte Nacht zusammen in Milas Wohnung. Mervyn ging gar nicht erst in die Universität zurück, um seine Sachen zu packen. Er und Mila waren wie betäubt vor Schmerz. Am nächsten Morgen begleitete Mila Mervyn in einem Taxi zum Flughafen Wnukowo, mit grauem Gesicht und wie unter Schock. Sie umarmten sich. Als Mervyn durch die Schranke zur Passkontrolle und aus ihrem Leben ging, wahrscheinlich für immer, wurde Mila von einem Schmerz überwältigt, der nicht weniger bitter war als der, den sie empfunden hatte, als man ihr ihre Eltern nahm.
»Mein Gott, diese Minuten dort am Flughafen waren furchtbar. Ich stand allein in der Ecke und sah tränenüberströmt Dein Flugzeug starten«, schrieb Mila einige Tage später an Mervyn. »Die Taxifahrer versuchten zu helfen und fragten, was los sei; sie sagten,
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