Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
gutmütiger Mann und beantwortete meine Fragen geduldig. Eine alte Frau im Dorf, die alle Babka Simka nannten und die meiner Tante im Haus half, schalt mich für meine schreckliche Unkenntnis der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, doch ich ließ mich nicht abbringen. Später spielten meine Freunde aus dem Dorf und ich Bürgerkrieg, Rote gegen Weiße. Die größte Ehre war es, ein Vickers-Maschinengewehr aus Holz, das der Großvater eines der Jungen gemacht hatte, auf einem Bollerwagen durchs Dorf zu ziehen. Wenn wir es die ausgefahrene Hauptstraße an der Datscha meiner Tante vorbeizerrten, brüllte Sascha manchmal ermutigend: »Friede dem Land der Sowjets!«
Wieder zurück in Moskau, am Abend des 27. März 1964, aß Mervyn mit Mila in ihrem Zimmer zu Abend. Er war ein überlegter Mann und hatte beschlossen, eine Weile zu warten, ehe er ihr einen Antrag machte. Doch als sie in die Küche gingen und die schmutzigen Teller in die Spüle stellten, platzte er plötzlich heraus: »Lassen wir uns registrieren!«
»Ach, Merwusja«, sagte Mila, den Kosenamen benutzend, den sie sich ausgedacht hatte. Sie umarmten sich in der fettigen Wärme der Küche. Doch sie sagte nicht Ja. Stattdessen sagte sie, Mervyn solle noch einmal darüber nachdenken, falls er es sich anders überlegte. Sie küssten sich zum Abschied im Flur, und Mervyn ging zur Metro.
Am nächsten Tag kam Mervyn wieder vorbei, und nun nahm Mila an. Sie gingen sofort zu der Villa in der Gribojedowstraße, in der sich der Zentrale Hochzeitspalast befand, der einzige Ort, an dem Ausländer heiraten durften. In der säkularen Sowjetunion wurden Paare nicht im Namen Gottes, sondern im Namen des Staates verheiratet. Über der Zeremonie thronte eine Leninbüste, musikalisch untermalt wurde sie von Mendelssohn vom Band, das eine mürrische alte Frau bediente. Mervyn und Mila standen in der Mittagspause, als besonders viel los war, vor dem Büro des Direktors Schlange, um sich für einen Hochzeitstermin eintragen zu lassen. Ihnen wurde gesagt, der frühestmögliche Termin sei am 9. Juni, in fast drei Monaten, und sie nahmen ihn. Sie erhielten ein Einladungsformular, das ihren Hochzeitstermin bescheinigte, und bekamen damit ordnungsgemäß Gutscheine für Champagner, die sie in Spezialläden einlösen konnten. Auf der Straße trennten sie sich. Mein Vater nahm den Trolleybus zur Lenin-Bibliothek, und meine Mutter ging zurück zur Arbeit.
Der lange Moskauer Winter neigte sich dem Ende zu. Mervyn saß an Milas kleinem Tisch und machte sich beim Schein der Lampe Notizen aus seinen Büchern. Mila saß auf dem Bett und strickte. Auf dem Heimweg von der Arbeit, wo alle Mädchen neugierig und neidisch auf ihren groß gewachsenen, scheuen Verlobten waren, kaufte sie Mervyn Schallplatten und Bücher. Meistens nahm er nachts die letzte Metro und kehrte in sein Zimmer in der Universität zurück, doch manchmal blieb er auch. Dann quetschten sie sich wie Teenager zusammen in das winzige Bett, und Mervyn schlich sich morgens auf Zehenspitzen hinaus, ehe die Nachbarn aufstanden. Beide hatten sie endlich das Glück gefunden.
Doch ihre Idylle fand ein jähes Ende. Im Mai, nach einem ermüdenden Treffen mit seinem Betreuer an der Staatlichen Universität Moskau, bemerkte Mervyn, dass ein ungewöhnlich großes KGB-Team zu seiner Beschattung bestellt worden war. Er war an jenem Nachmittag mit Igor Wail verabredet, einem Studienfreund, doch wegen der Schlägertypen rief er ihn an und schlug einen anderen Zeitpunkt vor, da er, wie er mit unmissverständlichem Euphemismus erklärte, unter gewissen Umständen nicht so gern vorbeikomme.
Mervyn war nervös, denn Wail hatte ihm einige Wochen zuvor einen roten Pullover abgekauft. Mervyn sollte sich das Geld bei ihm abholen, weil Igor ihn nicht sofort hatte bezahlen können. Mervyn hatte Igor außerdem einen alten braunen Anzug gegeben, den er für ihn im kommisjonka , dem Kommissionsladen, abgeben sollte, was nur Sowjetbürgern erlaubt war. Streng genommen waren beide Aktionen illegal, so wie jeglicher private Handel in der Sowjetunion. Igor hatte den Anzug genommen und gesagt, er könne bei einem afrikanischen Kommilitonen einen besseren Preis erzielen. Igor hatte unnatürlich angespannt geklungen, als Mervyn anrief, aber darauf bestanden, dass er trotzdem vorbeikommen solle.
Wail teilte sich mit seiner Mutter ein Zimmer in einer kommunalka in der Kropotkinskajastraße. Er begrüßte Mervyn übertrieben herzlich an der Tür.
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