Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Antwort. Sokolow war in einer Zeit aufgewachsen, als man solchen Allüren schlicht mit Gewalt begegnete. Er machte Mervyns Stammeleien missmutig ein Ende – würde er nun für den KGB arbeiten oder nicht? Er wurde aggressiv, schlug auf den Tisch, erzürnt über die zunehmend verzweifelten Ausflüchte meines Vaters. Am Schluss des Treffens, das ihr letztes sein sollte, war deutlich zu spüren, dass dem KGB schnell die Geduld riss, wenn sie nicht schon am Ende war.
Der tollkühne Widerstand meines Vaters gegen den KGB war in meinen Augen schon immer ein edelmütiger und von hohen Grundsätzen geleiteter Akt gewesen. Doch irgendwie finde ich ihn auch unverständlich. Während ich dies schreibe, wird mir klar: Wenn ich wählen müsste, ob ich von der Frau, die ich liebe, getrennt werde oder ein Dokument unterschreibe, auf dem steht, dass ich für den KGB arbeite, würde ich ohne zu zögern meinen Namen auf die gestrichelte Linie setzen. Wie auch immer meine privaten Gefühle für den KGB geartet wären, ich würde mein persönliches Glück über alles andere stellen. Ich weiß nicht, ob das ein Unterschied zwischen der Generation meines Vaters und meiner ist oder eine Frage unseres unterschiedlichen Temperaments.
Mein Vater wurde in eine Generation hineingeboren, deren Väter in Reih und Glied für König und Vaterland ins Maschinengewehrfeuer marschierten. Er wuchs in einer konformistischen Zeit auf, und obwohl vieles in seinem Leben bemerkenswert individualistisch verlief, war es für ihn unvorstellbar, sein Land zu verraten und sich den Schmeicheleien des KGB zu ergeben. Doch bei seiner Weigerung ging es nicht darum, sich für die Konformität zu entscheiden und gegen die extravagante Narrheit des Verrats. Sein tief verwurzeltes Ehrgefühl erlaubte es ihm einfach nicht; trotz eines lebenslangen Zynismus der Politik gegenüber zweifelte er nie an seiner Liebe zu seinem Land. Er sollte für seine Prinzipien einen hohen Preis bezahlen.
Ein kurzer Brief kam, auf dünnem offiziellem Papier, in dem mitgeteilt wurde, der Hochzeitstermin meiner Eltern sei gestrichen worden, da ein Strafverfahren gegen Mervyn eröffnet worden sei – was eigentlich nicht stimmte, da ja noch ermittelt wurde. Der KGB hatte außerdem Waleri Golowister zu einer langen Reihe Verhöre vorgeladen, unter der Bedingung strengster Geheimhaltung. Über gemeinsame Freunde ließ er Mervyn trotzdem wissen, dass es ihn getroffen hatte. Mein Vater, der inzwischen große Angst vor dem nächsten Schachzug des KGB hatte, begann zu begreifen, dass auch seine Freunde die Folgen seiner Haltung zu spüren bekamen.
Um die Spirale der Rache vielleicht noch aufzuhalten, beschloss Mervyn, sich an den Labour-Führer Harold Wilson zu wenden, der damals noch Oppositionsführer war. Wilson weilte zu einem Treffen mit den Sowjets in Moskau, weil diese sich sehr für die Chancen der Labour-Partei bei den nächsten Wahlen in England interessierten. Mervyn fuhr am Abend von Wilsons Ankunft mit dem Trolleybus zum Hotel National und nutzte seinen Status als Ausländer, um am Sicherheitspersonal des Hotels vorbei bis zu Wilsons Zimmer zu gelangen. Wilson selbst öffnete Mervyn die Tür, doch als dieser begann, seine missliche Lage zu schildern, und ihn bat, sich persönlich bei Chruschtschow für ihn einzusetzen, witterte Wilson Ärger und lehnte höflich, aber bestimmt ab. Bei einem Besuch bei Wilsons Schattenaußenminister Patrick Gordon Walker zwei Tage später wurde er noch entschiedener abgewiesen. Walker riet meinem Vater albernerweise, sich an die Botschaft zu wenden.
Mervyn und Ljudmila beschlossen, zum geplanten Termin im Hochzeitspalast in der Gribojedowstraße zu erscheinen, obwohl er gestrichen worden war. Mila trug ein mit Perlen besticktes Hochzeitskleid aus Leinen, und Mervyn hatte einen schweren Trauring aus Rotgold in der Jackentasche.
Mein Vater setzte alles auf eine Karte – was letztlich das Ende nur noch schneller herbeiführte – und lud ein ganzes Gefolge Auslandskorrespondenten ein, die über seinen Hochzeitsversuch berichten sollten. Victor Louis von der Evening News , ein mysteriöser Typ russischer Abstammung und Doyen der Auslandspresse in Moskau, war anwesend sowie mindestens ein Dutzend KGB-Schläger. Die Direktorin des Hochzeitspalastes zog es vor, dem Gebäude den ganzen Tag fernzubleiben. Ihre sture Stellvertreterin weigerte sich, das Paar zu verheiraten, mit der Begründung, ihr Termin sei auf Anweisung der »Verwaltung« gestrichen
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