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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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gekleidet und sprach auf eine vornehm schleppende Weise, wie ich es bis dahin nur im Fernsehen gehört hatte. Seine Wohnung war voller Bücher und Fotos von Flugzeugen aus dem Ersten Weltkrieg, die er geflogen hatte (und mit denen er, wie ich fasziniert vernahm, auch abgestürzt war oder, wie er es formulierte, Bruch gemacht hatte). Ich weiß noch, wie er mir feierlich die Hand schüttelte, wenn wir gingen, obwohl ich kaum älter als fünf oder sechs war. Ich glaube, vor Footman hatte das noch niemand mit mir gemacht.
    Bei dünnem Tee in gesprungenen Tassen hörte sich Footman voller Anteilnahme Mervyns Geschichte an und stopfte dabei sorgfältig seine Pfeife. Junge Leute haben einfach in Schwierigkeiten zu geraten, sagte er meinem Vater; er selbst war schon in so mancher Bredouille gewesen. Footman vertraute ihm an, er habe immer lieber einen Sekretär gehabt, der auch mal »mit jemandem ins Heu ging«, als einen prüden, mit denen kam man besser aus. Als Mervyn geendet hatte, schlug Footman vor, er würde mal mit Battersby aus der Sicherheitsabteilung des Außenministeriums reden – die wären sicher interessiert. Er stopfte seine Pfeife nach und strich sich über die distinguierte Stirn.
    »Sie rechnen doch nicht etwa damit, sie rauszuholen, oder? Das würde helfen. Sie müssen in diesen Dingen realistisch sein.«
    Doch Mervyn konnte nicht realistisch sein, das war gegen seine Natur. Außerdem hatte er sich, glaube ich, an der Irrationalität und dem Maximalismus Russlands angesteckt. Nicht so sehr an dem oberflächlichen Drang zur Selbstdramatisierung, die zweifellos eine sehr russische Angewohnheit ist, aber an den wahren Höhenflügen des Geistes, der nur dann blüht, wenn die Wirklichkeit nicht mehr zu ertragen ist. Realistisch zu sein bedeutete nach russischem Dafürhalten aufzugeben. Für Mila hätte es bedeutet, mit 15 in einer Tuchfabrik zu arbeiten. Für Mervyn hätte es bedeutet, als Angestellter im örtlichen Co-op anzufangen. Sowohl Mila als auch Mervyn hatten sich immer geweigert, sich mit dem abzufinden, was andere für vernünftig hielten.

    Bald nach dem Gespräch mit Footman erhielt mein Vater einen Brief aus Moskau. Er kam über Italien, wo ihn ein italienischer Kommunist und Freund meiner Mutter aufgegeben hatte. Der Brief war Milas Manifest – Herausforderung und verzweifelter Aufschrei zugleich. Er war ganz ausdrücklich nicht realistisch, und das macht ihn so überwältigend – und fast unerträglich – zu lesen, auch jetzt noch, ein ganzes Leben später.
    »Du erhältst diesen Brief am Abend vor Deinem Geburtstag«, schrieb Mila. »Ich schicke ihn über Italien. Er ist der Schrei meiner Liebe, und er ist nur für Dich und mich.« Ihre anderen Briefe wurden, davon gingen sie aus, sporadisch vom KGB gelesen; doch dieser sollte, so war Ljudmila fest entschlossen, ganz und gar privat sein.

    »Ich habe nie zuvor solche Brief an jemanden geschrieben, und alles, was ich schreibe, ist ehrlich und wahrhaftig. Meine Liebe zu Dir mag in ihrer Intensität krankhaft wirken. In unserer Zeit haben die Menschen gelernt, sich mit wenigem, Halbherzigem, Künstlichem zufriedenzugeben. Sie vergessen Gefühle schnell, trennen sich leicht voneinander und betrügen einander. Sie nehmen ohne Weiteres Ersatzmittel an, auch für die Liebe. Mein Leben lang bin ich gegen den Strom geschwommen, mein ganzes Leben war ein wilder Kampf gegen alle Versuche, mir eine Lebensweise aufzuzwingen, eine Denkweise, die in meinen Augen absolut inakzeptabel ist. Mein Leben war ein Kampf um Bildung, Kultur, Unabhängigkeit und schließlich Liebe.
    Von frühester Kindheit an habe ich einen hitzigen Streit mit dem Leben geführt. Das Leben sagte zu mir: Studiere nicht! Liebe nicht wunderbare Dinge! Betrüge! Glaub nicht an die Liebe! Verrate deine Freunde! Denk nicht! Gehorche! Doch ich blieb stur bei meiner Antwort: Nein!, und bahnte mir weiter meinen schwierigen Weg durch die Trümmer. Das Leben war grausam und rachsüchtig. Es verweigerte mir Liebe, Freundlichkeit, Wärme. Doch mein Durst danach wuchs nur. Das Leben versuchte, mich zu überzeugen, das Glück sei unmöglich, doch ich glaubte trotzdem weiter daran, suchte weiter danach und wartete, bereit zu kämpfen, wenn ich es finden sollte, und es dann niemals wieder aufzugeben.
    Es heißt, man sollte jemanden für seine guten Eigenschaften lieben – aber ich liebe alles an Dir, das Gute und das Schlechte. Ich schäme mich Deiner Schwächen nicht, ich trage sie in mir

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