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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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wie etwas Heiliges, unerreichbar für die Augen anderer. Ich höre es nicht, wenn jemand schlecht von Dir spricht. Ich glaube, dass nur ich Dich ganz und gar sehe, und daraus erwächst in mir die Überzeugung, dass Du der Beste bist. Ich liebe Dich wie mein Kind, wie einen Teil meines Körpers; ich spüre oft, dass ich Dich geboren habe. Ich möchte Dich so sehr in meinen Armen wiegen, Dich vor aller Gefahr beschützen, Dich vor Krankheit bewahren.
    Glaubst Du mir, mein Junge, dass ich bereit bin, mein Leben für Dich zu geben? Mit dem schwachen Mut einer Frau versuche ich Dir zu helfen, Dich zu weigern, diese Leute zu fürchten, auch wenn sie übermächtig sind. Diese dunklen Tage haben mir wahrhaftig gezeigt, wie sehr ich meinen schüchternen Mervyn liebe, wie sehr ich in Herz und Seele mit ihm zusammengewachsen bin und welch schreckliche Operation an mir ausgeführt wurde – an meinem Herzen. Mein Ziel ist nun, diesen rächenden Adlern, diesen ausgehungerten Raubtieren zu zeigen, dass meine Liebe stärker ist als ihr Hass.«

    Wie hätte Mervyn sich weigern können zu kämpfen, nach solch einem herzzerreißenden Brief? Wie könnte jemand, der zum Gegenstand solcher Liebe und Hoffnung und solchem Glauben gemacht wurde, seine Geliebte im Stich lassen? »Liebe mich«, schrieb sie, »sonst sterbe ich.«
    »Für mich ist nichts mehr, wie es einmal war«, antwortete er. »Aber Du hast mir eine schwere moralische Bürde auferlegt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich stark genug bin, sie zu tragen. Ich spreche nicht von den Widrigkeiten, die unserer Hochzeit entgegenstehen – sei versichert, dass dieser Plan zu 150 Prozent ausgeführt wird. Nein, ich meine das hohe moralische Beispiel, das Du mir gibst, und die Notwendigkeit, mich zu perfektionieren. Dein Loblied macht mich verlegen. Es suggeriert, ich sei besser als Du. Doch in den meisten Dingen kann ich nur von Dir lernen. Du hast mir einen völlig neuen Blick auf das Leben gegeben, genau in dem Augenblick, als ich dessen so sehr bedurfte.«
    Sein Russisch war über all die Jahre, in denen sie sich schrieben, so steif und förmlich wie das ihre feurig und leidenschaftlich. Es war fast, als kämpfte er gegen seine Erziehung an auf der Suche nach Worten, die Gefühle ausdrückten, die zu groß, zu stark waren, um sie in die engen Grenzen höflicher schriftlicher Korrespondenz zu zwängen. Mein Vater unterschrieb den eben zitierten Brief mit einem prächtigen Schnörkel; vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber es war eine extravagantere Unterschrift als auf jedem seiner vorangegangenen Briefe.

    Mervyn gelang es, einen Anruf bei Lenina zu buchen, und bat sie, Ljudmila auszurichten, sie solle später in der Woche im Zentralen Telegrafenamt in der Gorkistraße sein. Mila war elektrisiert von ihrem ersten Ferngespräch seit der Trennung. »Als ich Deine Stimme hörte, raste mein Blut wie eine Rakete durch meinen Körper«, schrieb sie. »Ich will Deine Stimme küssen.« Ljudmila konnte das Gemeinschaftstelefon auf dem Flur ihrer Wohnung wegen ihrer neugierigen Nachbarn nicht nutzen, und so organisierten sie ein System zweiwöchiger Anrufe. Die Telefonate mussten im Voraus gebucht werden, und sie mussten kurz sein, wegen der Kosten. Doch die wenigen Gesprächsminuten in der engen Telefonzelle des Telegrafenamts wurden Milas Rettungsanker.
    »Mein kleiner Mervyn! Ich vermisse Dich so sehr! Ich möchte so sehr Deinen kleinen Kopf küssen, Deinen Nacken, Deine kleine Nase, aber was soll ich nur tun, hm, mein kleiner Junge?«, schrieb sie bald nach dem ersten Telefonat. »Wie sollen wir nur dieses Hindernis überwinden, das uns so vollkommen trennt? Es ist so grausam, so schwer, einen Geliebten zu haben und ihn nicht sehen, ihm nicht nahe sein zu können. Manchmal blüht Hoffnung in mir auf, Glaube – ich will so mutig und stark sein, doch viel öfter fühle ich solche Verzweiflung, solchen Frust, solch furchtbaren Schmerz in meinem Herzen, so bitter, dass mich meine Kraft verlässt und meine Nerven es nicht mehr ertragen und ich ihn in die Welt hinausweinen möchte. Ich kann immer noch nicht glauben, dass es wahr ist, dass Du nicht an meiner Seite bist. Es ist so grausam, so ungerecht! Aber wem sollen wir das beweisen, wer hat Zeit für unseren Schmerz, unser Unrecht? Eine Maschine hat keine Gefühle, sie denkt nicht, sie überrollt die Menschen einfach, dieser böse Moloch der Geschichte.«
    Mervyn fing gerade erst an, die Methoden des Molochs der Geschichte

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