Winterland
Zellen gesehen. Er hatte die Verhöre erlebt. Er kannte die Leute, die die Verhöre leiteten. Er hatte die Gefangenen gesehen. Hinterher.
Damals war er durch seine Uniform geschützt gewesen.
Jetzt trägt er nicht einmal anständige Kleider am Leib. Er besitzt überhaupt keine anständigen Kleider, nur ein Unterhemd und die Boxershorts. Er spürt die Sonne auf seinen Kopf brennen. Sie ist auch am Heiligabend sehr stark. Es ist schon lustig mit der Sonne in diesem Land. Je stärker das Licht, desto dunkler die Gefängniszellen. Wer im Gefängnis landet, sieht die Sonne überhaupt nicht mehr.
Plötzlich hört er neben sich ein Zischen, das fast wie ein menschlicher Laut klingt. Er sieht die Reflexe im Gras blinken, weiß, was das ist, und wirft sich gerade noch zurück, ehe die tödliche Silberschlange angreifen kann.
Der Körper des Reptils saust zehn Zentimeter neben ihm wie ein Blitz durch die Luft. Ein Biss, und er würde noch eine halbe Stunde haben, Polizei und Gefängniszellen hin oder her. Sonnenschein hin oder her. Weihnachten oder nicht. Verbrechen oder nicht.
Ich muss irgendwohin gehen, wo ich nachdenken kann. Er steht langsam auf. Dann werde ich telefonieren können.
Oben im Zimmer hatte sie die großen Fenster zur Strandpromenade und zum Meer geöffnet. Die Gerüche und die Geräusche waren hereingeströmt. Alles war so fremd für sie, so wunderbar fremd.
»Ich habe noch niemals so einen roten Himmel gesehen«, hatte sie gesagt und sich nach Westen hinausgelehnt. »Der ganze Himmel ist rot wie eine Blutorange.«
»Das heißt, dass es morgen auch wieder schön wird«, hatte er gesagt.
»Deshalb sind wir ja hier«, hatte sie geantwortet und sich vom Fenster abgewandt. Und dann war er durchs Zimmer gegangen und hatte sie umarmt.
Zwei Stunden später waren sie in den Speisesaal des Hotels gegangen und hatten kleine gefüllte Paprika und gegrillten Fisch bestellt. Die letzte halbe Stunde, als sie bei Kaffee und Brandy einfach nur dasaßen, war es ihm schwer gefallen, die Augen offen zu halten.
Danach hatte er wie ein Kind geschlafen. Als er erwachte, hatte er den Geruch des Morgens im Zimmer verspürt. Er hatte sie in der Dusche gehört, das Geräusch brausenden Wassers. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte, ohne mehrmals aufzuwachen.
Sie hatte die Tür des Badezimmers geöffnet und war mit einem Handtuch um den Kopf herausgekommen.
»Guten Morgen, du Schlafmütze«, hatte sie gesagt.
»Wie spät ist es?«
»Halb zehn.«
»Mein Gott.«
»Scheinbar brauchtest du mal Ferien.«
»Und die haben ja gerade erst begonnen«, hatte er gesagt, sich im Bett aufgesetzt und die Füße auf den kühlen Steinfußboden gestellt.
»Sollen wir in irgendeinem Straßencafé frühstücken?«, hatte sie gefragt und zum Fenster gedeutet.
Er hatte gesehen, wie sich die Palmenblätter im schwachen Wind wiegten.
»Du hattest Recht«, fuhr sie fort, »heute wird es auch wieder schön.«
Am Himmel ist keine Wolke zu sehen. Er rennt über die Straße, die zu der drei Kilometer außerhalb der Stadt liegenden englischen Airbase und dann weiter zu den neuen Badeorten Richtung Osten führt. Vor zwanzig Jahren gab es dort gar nichts, abgesehen von einer kleinen Taverne am Strand, nur ein Schuppen. Jetzt findet man da große Hotelkomplexe, Pools, Restaurants, Bars, mehrere Supermärkte, Tennisplätze, alles.
Sie hatten vorgehabt, einmal raufzufahren und in dem klaren Wasser zu baden. Es ist klarer dort, klar wie Kristall. Morgen, denkt er, als er auf der anderen Seite der Straße in Richtung Strand läuft, um dort bei dem großen Hotel Schutz hinter den Büschen zu suchen. Morgen wollten wir dorthin fahren. An Heiligabend. Wenn der Heilige Abend kommt, denkt er und erreicht die schützenden Büsche. Er atmet heftig. Sein Puls rast vom Laufen, aber auch von der Angst und der Anspannung, die er wie ein Fieber im Körper fühlt.
Nach dem Frühstück waren sie die Promenade entlangspaziert. Ein paar Häuser waren renoviert worden, vielleicht waren sie auch ganz neu, aber insgesamt fand er, dass alles so aussah wie damals. Die alte Stadt jenseits der Strandpromenade war dieselbe. Sie waren an dem Haus vorübergegangen, in dem er in der ersten Zeit gewohnt hatte. Die Tür war unverändert. Er hatte ihr nichts gesagt über das Haus oder die Wohnung im ersten Stock, wo die Fenster zum schattigen Vormittag hinaus geöffnet waren. Warum habe ich nichts gesagt?,
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