Winterland
meinen Wahnsinn ausleben könnte.«
»Und welches?«, hatte Winter gefragt.
»Italien«, hatte Hirschmann geantwortet.
»Natürlich.«
»Da kann man wirklich alles zubereiten, was in der Erde wächst.«
»Wann fährst du?«, hatte Winter gefragt.
»Noch bin ich kein Vegetarier«, war Hirschmanns Antwort gewesen.
»Ich meine zu deinem jährlichen Italienbesuch.«
»Übermorgen.«
Es würde für Hirschmann kein Übermorgen geben, überhaupt keinen Morgen und keinen Tag. Winter musste an das Gespräch denken, das er an diesem Abend mit dem Freund geführt hatte. Die freudige Erwartung, die er vor seiner alljährlichen Reise immer empfand, hatte in Hirschmanns Augen geleuchtet. Wie alle erfolgreichen Köche war er ein weit gereister Mann gewesen, doch Italien hatte ihm immer besonders viel bedeutet, das wusste Winter.
Er zögerte immer noch vor der Tür zum Kühlraum und erinnerte sich an den Telefonanruf, den er vor weniger als einer halben Stunde erhalten hatte. Er war vom Dienst habenden Beamten in der Einsatzzentrale gekommen.
Die Tür zum Kühlraum hatte offen gestanden, das war dem Wachmann verdächtig vorgekommen, und deshalb war er in den Raum hineingegangen. Er hatte Hirschmann identifiziert.
»Wie kann er so sicher sein?«, hatte Winter in den Hörer gefragt und gleichzeitig versucht, sich das Hemd anzuziehen.
»Der Wachmann arbeitet wohl schon seit Jahren dort«, hatte der Beamte geantwortet. »Der Laden ist auf seiner Runde. Er hat sich immer mal wieder mit Hirschmann unterhalten, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Wie das?«
»Hirschmann ist regelmäßig bis spätnachts dort gewesen und hat die Küche aufgeräumt oder was auch immer.«
»Dieser Wachmann hat Ihnen ja schon einiges erzählen können«, sagte Winter und zog sich die Hose an, die er, ebenso wie das Hemd, an diesem Abend schon getragen hatte. Er verspürte den Geruch von Essen und Zigarillos. Den Geruch von Hirschmanns Restaurant.
»Er scheint einen Schock zu haben. Dann reden die Typen ja wie die Bekloppten.«
»Sind Leute von uns auf dem Weg dorthin?«
»Die müssten jetzt schon da sein, Winter.«
»Dann sorgen Sie dafür, dass die den Wachmann festhalten.«
»Natürlich.«
»Und nur noch mal, um das klarzustellen: Hat der Wachmann gesagt, dass der Tote, den er gefunden hat, Lars Hirschmann ist?«
»Nicht in diesen Worten. Aber es ist so.«
»Sie sind sich da vollkommen sicher?«
»Ja. Aber Sie fahren doch selbst hin und sehen nach, oder?«
»Bin schon auf dem Weg«, hatte Winter gesagt und den Hörer aufs Bett geworfen. »Leider.«
Jetzt betrat er den Kühlraum. Die Kälte war trocken und dicht und schlug ihm entgegen wie an einem Wintertag, wenn die Sonne sich andernorts aufhielt. Er konnte Schubladen und Kartons hoch gestapelt sehen. Flaschen waren da. Er konnte Körper sehen. Vögel. Teile von Lamm, Schwein. Fische, die zu Klößchenfarce oder Pasteten verarbeitet werden sollten.
Lars Hirschmann saß ganz hinten in dem langen, schmalen Raum auf einem Stuhl. Als Winter auf ihn zuging, hatte er plötzlich das Gefühl, als sei der Meister im Begriff aufzustehen, um irgendetwas zu sagen oder zu tun. Irgendetwas zuzubereiten. So, als würde er sich nur einen Moment lang ausruhen, um dann die letzten Vorbereitungen für die Nacht zu treffen, sich vielleicht ein letztes Glas Wein zu gönnen und dann für ein paar Stunden Schlaf nach Hause zu gehen. Winter wusste, dass Hirschmann niemals viel schlief. Er zog seine Energie aus der kreativen Nervosität, die immer wie ein Kraftfeld mitten in der Küche des Restaurants schwebte.
Winter machte die letzten Schritte auf den Toten zu. Er schloss die Augen und stand ganz still. Dann öffnete er die Augen wieder und begegnete Hirschmanns gebrochenem Blick, der etwas direkt hinter Winter zu betrachten schien, so, wie er es etwas früher an diesem Abend getan hatte. Winter drehte sich um, aber da war nichts, nur das eiskalte Licht, das aus der Küche hereinsickerte.
Winter sah sich im Raum um. Er betrachtete Hirschmanns Gesicht, seine Stellung auf dem Stuhl. Er versuchte, an seine Arbeit zu denken, fest daran zu denken, dass er wieder einmal dabei war, seine verdammte Arbeit zu machen. Die Arbeit, die er gewählt hatte, um sich und seine Familie versorgen zu können. Er versuchte an all das zu denken, daran, dass Lars Hirschmann jetzt nur eines in der langen Reihe von Opfern war, denen er begegnet war und denen er in Zukunft noch begegnen würde.
Er konnte einfach
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