Winterland
Minenfelder nach Schottland gefahren waren und dort ihre Netze ausgeworfen hatten. Und ihr Vermögen gemacht hatten. Und auf halbem Weg nach Hause den Tod gefunden hatten. Das war allzu oft geschehen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, hatten sich auf den Inseln neue Holzhäuser gebaut und die Fischerei ihren Söhnen vererbt, und die Söhne brachten jetzt ihren Fang in diesen Fischereihafen nach Göteborg, der einer der wichtigsten der Welt war, denn hier wurden die besten Früchte des kalten Meeres unter den blitzschnellen Rufen der Auktionatoren in die flachen Holzkisten geschüttet.
Winter hatte neben Hirschmann gestanden und den Rausch von den Fischen in den Kisten, den Fischen selbst und dem weiten Meer gespürt. Die Männer um sie herum trugen die Zeichen des weiten Meeres in ihren Gesichtern, die rot waren und glühten und gleichsam von einem Netz feiner Runzeln überzogen waren, als ob das Gesicht Jahrzehnte schneller alterte als der restliche Körper.
Er hatte in den Hunderten von Holzkisten die langsamen Bewegungen der riesigen Krebse gesehen, einige von ihnen groß wie Hummer oder Langusten. Und die Hummer selbst, die nur vom 20. September bis zum 30. April gefischt werden durften. Und die Krabben, die zu dieser Zeit, im Dezember, am besten waren. Die Miesmuscheln, die etwas später im Frühjahr noch besser sein würden. Die Nordseekrabben, die in der kalten Jahreszeit am besten und am billigsten waren. Sie rochen nach Meer, einfach nur nach Meer. An einem späten Freitagnachmittag trug sicher mehr als die Hälfte der Leute in Göteborg nach der Arbeit eine Papiertüte mit frischen Krabben nach Hause, für das traditionelle Abendessen mit Krabben, Zitrone, Toastbrot, selbst gemachter Mayonnaise, Dill, vielleicht etwas Kaviar und ein oder zwei Flaschen gutem Weißwein. Einfach, delikat, Weltklasse. Winter stand freitags auf dem Weg nach Hause oft vor einem kleinen Fischauto. Diese Fischautos waren das Besondere an Göteborg, es gab sie in allen Stadtteilen, kleine Kioske auf Rädern, in denen Schalentiere und einige ausgewählte fangfrische Fische verkauft wurden.
Winter hatte neben Hirschmann gestanden und die verschiedenen Dorscharten angesehen, Schellfisch, ein paar wenige Seehechte, Köhler – der Dorsch, schon gefährdet, der außergewöhnliche Weißling, der zu Winters Favoriten gehörte. Dazu die wunderbaren Plattfische wie Doggerscharbe, Hundszunge, Scholle und natürlich Seezunge. Steinbutt, ein exklusiver Fisch, und der riesige Heilbutt.
Da gab es Lachsarten, fette Heringe und die wohlschmeckenden Austernfische Seewolf und Anglerfisch, die wirklich gruselig aussahen.
»Dass etwas so Hässliches so gut sein kann«, hatte Hirschmann an jenem kalten Dezembermorgen gesagt, und der eisige Atem wehte wie ein eigenes Wesen durch die Fischhalle. Er hatte auf einen Anglerfisch gezeigt, der mit seinem riesigen Maul und den schrecklichen Zähnen zu ihnen heraufgegrinst hatte. »Siehst du, Erik, er versucht zu lächeln«, hatte Hirschmann gesagt, »aber das Lächeln schafft es nie bis zu den Augen.«
Winter erinnerte sich sehr gut an Hirschmanns Worte, als er jetzt am Fischereihafen vorbeifuhr, der nur noch eine entschwindende Kulisse in seinem Rückspiegel war.
Er durchquerte die westlichen Stadtteile und nach fünf Minuten konnte er links zwischen den Häusern das offene Meer sehen. Die Sonnenreflexe machten die Wasseroberfläche zu einem Spiegel aus Silber oder Fischschuppen. Das Wasser blitzte noch vor Winters Augen, als er seine Sonnenbrille aufsetzte und in eine kleine Straße abbog, die er dann hundert Meter hinunterfuhr. Er fuhr so dicht wie möglich an den Straßenrand und machte den Motor aus. Vor ihm, ungefähr vierzig Meter entfernt, konnte er einen Wald von Bootsmasten erkennen. Hätte er einige Wochen zuvor hier gestanden, dann hätte es dort noch keinen Wald gegeben. Aber jetzt waren alle Boote eingesetzt. In dieser Stadt gab es mehr Segelboote als Autos. Wer immer das feste Land verlassen konnte, tat es auch. Die Menschen in dieser Stadt fühlten sich auf und im Wasser einfach wohler als an Land. Es war, als hätten sie das amphibische Lebensstadium nie ganz hinter sich gelassen, als wäre die Evolution hier nicht vollendet worden. Darwin, da war er wieder.
Winter stieg aus dem Auto und sah zu dem Haus hinauf, vor dem er geparkt hatte. Es war eins von den für diesen Stadtteil typischen Häusern. Anfang des 19. Jahrhunderts als Strandhäuser für die reichen Bürger gebaut,
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