Winterland
die in den großen Wohnungen im Stadtzentrum wohnten. Wenn der Sommer endlich da war, zogen sie mit ihrem ganzen Haushalt in diese Holzhäuser um. Sie erinnerten Winter an mittelalterliche Burgen, die als Schutz gegen eine unbekannte und bedrohliche Umgebung errichtet worden waren. Das Haus von Lars Hirschmann war eines der kleineren, als wäre es nur eine Hütte zu einem der Strandhäuser gewesen. Doch diese Hütte war geräumig, und da sie den Besucher mit ihrer breiten Seite begrüßte, wirkte sie doppelt so groß, als sie eigentlich war, was man feststellte, sobald man den Flur betrat, der sich nach Backbord und Steuerbord fortsetzte.
Hirschmann hatte allein gelebt. Er gehörte zu der Sorte Männer, die nie geheiratet und nie Kinder bekommen hatten.
Winter war drauf und dran gewesen, genauso zu werden.
Er war reifer geworden. Ja, so sah er es. Er hatte gelernt zu leben, ein soziales Leben zu leben, das die Verantwortung für eine Beziehung beinhaltete. Das hatte er nicht gekonnt, als er noch völlig auf seine Karriere fixiert gewesen war.
Hirschmann war nicht auf dieselbe Weise gereift, aber vielleicht konnte man das auch nicht vergleichen. Winter wusste nur wenig über die private Vergangenheit des Freundes, doch das erstaunte ihn kaum. Es war sehr schwer, wirklich etwas über die Vergangenheit eines Menschen zu wissen. Seine Arbeit hatte ihn gelehrt, dass nichts so war, wie es auf den ersten Blick schien. Und am allerwenigsten die Leben der Menschen. Erst im Tod trat die Vergangenheit zutage, als würde sie rufen: Sieh mich an! So war ich! Das ist der Grund!
Dieser Gedanke traf ihn wie ein kalter Wind. Der Schlosser, der wenige Minuten nach ihm angekommen war, hatte ihn hereingelassen, und jetzt stand er allein im Flur. Winter hatte Hirschmanns Schlüssel, die sie in seiner Tasche gefunden hatten, nicht benutzen wollen, nicht einmal, nachdem sie auf mögliche Abdrücke untersucht worden waren. Das war eine Frage des Respekts.
Er ging durch die Zimmer. Es waren weniger, als der Betrachter von außen vermuten würde. Winter war im Laufe der Jahre ungefähr ein halbes Dutzend Mal hier gewesen. Hirschmann war einfach nicht der Typ gewesen, der oft zu einem Mittagessen zu Hause einlud. Das lag vor allem daran, dass er so gut wie nie zu Hause war. Und wenn er es einmal war und Winter war auch da gewesen, hatte es nur ganz wenig Arbeit in der Küche gegeben, vielleicht ein paar Dutzend Austern von den Austernbänken in der Nordsee, ein gedämpfter Hummer, vielleicht Krabben mit einer milden Aioli – einfache Dinge, die innerhalb von wenigen Minuten auf dem Tisch standen.
Winter stand im Esszimmer. Das Licht schnitt mit zwei Strahlen durch das große Fenster, das aufs Meer hinausging, und teilte den Tisch in zwei Teile. Er spürte wieder, wie die Kälte in ihm hochkroch. Zwei Schnitte. Hirschmann hatte sein Leben wegen zweier Schnitte lassen müssen. Winter schloss die Augen, machte sie wieder auf, und die Strahlen waren verschwunden.
Vor dem Esszimmer lag der Raum, den Hirschmann sein Arbeitszimmer nannte. Er enthielt einen schweren Eichenschreibtisch, einen breiten Ledersessel und vom Boden bis zur Decke reichende Bücherregale, in denen Literatur und Papierordner jede Lücke ausfüllten. Hirschmann war ein Sammler kulinarischer Literatur in allen Sprachen gewesen. Er hatte sie nicht alle gesprochen, aber er kannte die einheimischen Namen der Gerichte von Portugal bis Sri Lanka, vom Fischeintopf Caldeirade de peixe bis zum Fischcurry Kiri malu, von dem mexikanischen Krabbengericht Canarones en frio bis zum japanischen Fisch-Suriyaki Chirinabe. Alles wie immer Gerichte, deren Zutaten aus dem Meer stammten.
Winter blieb vor den Bücherregalen stehen. Morgen hätte Hirschmann wieder in Italien sein sollen. Hatte er nicht von einer der kleinen Städte an der toskanischen Küste gesprochen? Doch von welcher? Winter sah sich um. Irgendwo in diesem Haus mussten doch die Flugtickets liegen, vielleicht nach Florenz oder Rom. Irgendwo gab es einen Hotelgutschein oder eine Reisebestätigung. Eigentlich spielte es keine Rolle, Oder doch? Hatte Hirschmanns bevorstehende Reise etwas mit dem Mord zu tun? Winter wandte sich um. Die Sonne schien nicht mehr durchs Fenster. Er meinte zu sehen, wie sich da draußen ein Segel im Wind bewegte, als würde es zu einem Geisterschiff gehören. Hirschmann hatte auch Segelboote besessen, doch im Augenblick nicht mehr. Er hatte sich Boote gemietet, so auch in Italien. Winter dachte
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