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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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ins Bad. Zum Wiegen braucht man eine harte Unterlage. Die Telefone klingeln, eins in jedem Zimmer des Hauses, fröhliche Dingeling-Klingeltöne. Der Anrufbeantworter geht ran.
    Ich pinkele das überflüssige Wasser aus mir heraus und entkleide mich. Im Stehen bin ich ein Meter fünfundsechzig, kleiner als ein Neuntklässler. Zu dieser Zeit hörten auch meine Tage auf. Ich tue so, als wäre ich ein dicker, gesunder Teenager. Sie tun so, als wären sie meine Eltern. Alles ist gut.
    Ich schließe die Augen.
    Während ich auf die Waage steige, warnt Jennifer Emma vor Eiscreme.
    Während ich auf die Waage steige, hat Emma Angst vor Vanille.
    Während ich auf die Waage steige, schlitzt Mom gerade irgendeinen fremden Menschen auf.
    Während ich auf die Waage steige, rücken die Schatten näher.
    Während ich auf die Waage steige, ist Cassie am Träumen.
    Ich öffne die Augen: 44, 9 Kilo. Ich stehe ganz offiziell auf der Ziellinie. Ziel Nummer eins.
    Ha!
    Wenn mein Arzt davon wüsste, würde er mich packen wie ein Wrestler und zurück in den Behandlungsring werfen. Es gäbe Diskussionen und Konsequenzen, weil ich (wieder einmal) die Regeln für Lia mit den perfekten Maßen gebrochen hätte.
    Ich muss so dick sein, wie sie wollen. Ich muss meine Affirmationen immer wieder aufsagen wie Zauberformeln, die die bösen Stimmen aus meinem Kopf vertreiben. Ich muss mich verpflichten, gesund zu werden, so wie eine Nonne in einem Kloster Körper und Seele verpfändet.
    Das sind doch Idioten. Dieser Körper hat einen anderen Stoffwechsel. Er hasst es, die Ketten mit sich herumzuschleppen, die sie ihm anlegen. Beweise? Mit 44, 9 Kilo kann ich klarer denken, sehe besser aus, fühle mich stärker. Mit Erreichen des nächsten Ziels wird es genauso sein, nur besser.
    Ziel Nummer zwei sind 4 3 Kilo, die perfekte Balance. Mit 4 3 Kilo werde ich rein sein. Leicht genug, um erhobenen Hauptes zu gehen, schwer genug, um alle anderen zu täuschen. Mit 4 3 Kilo werde ich stark genug sein, um alles unter Kontrolle zu haben.
    Ich stelle mich auf die Spitzenverstärkung, die sich vorn in meinen Satinballettschuhen versteckt, mit an den Waden angenähten rosafarbenen Bändern, so erhebe ich mich in die Luft: Zauberei.
    Mit 4 1 Kilo werde ich schweben. Das ist Ziel Nummer drei.
    Cassie sieht mir zu, halb versteckt hinter dem Duschvorhang.
    »Hör auf damit«, flüstert sie.
    014.00
    Ich bin wieder spät dran. Ich träume vor mich hin (44,9! 44,9! 44,9! Morgen werden es 44,4 sein!) und bin schon fast zur Tür hinaus, als mir das rote Blinklicht auffällt. Der Anrufbeantworter. Nicht mein Problem. Jennifer wird ihn abhören, wenn sie nach Hause kommt.
    Aber was, wenn es Jennifer ist, mit der Bitte, Emma von der Schule abzuholen? Oder mein Vater, der irgendwelche wichtigen Unterlagen vergessen hat? Oder Cassi e …
    Ach nein, Cassie nicht.
    Ich setze meinen Rucksack ab, gehe zurück durch die eingefrorene Küche und drücke auf PLAY .
    »Äh, hallo? Ich hoffe, das hier ist die richtige Nummer.«
    Eine Männerstimme. Tief. Niemand, den ich kenne.
    Ein Husten. »Ich suche jemanden namens Lia. Äh, Lia, falls das die richtige Nummer ist, na ja, oh Mann, falls das nicht die richtige Nummer ist, wirst du die Nachricht ja wohl kaum bekommen. Kannst du bitte im Gateway Motel anrufen oder mal vorbeikommen, wenn du in der Nähe bist? Frag nach Elijah, das bin ich. Ich hab Cassie versprochen, dass ic h …«
    Der AB schneidet ihm das Wort ab.
    Ich ziehe eins von Dads supergroßen T-Shirts an, weil ich nicht mehr aufhören kann zu zittern. Höre mir die Nachricht ein Dutzend Mal an, dann rufe ich bei der Schulkrankenschwester an, um ihr mitzuteilen, dass es mir heute wirklich richtig mies geht und ich gleich einen Notfalltermin bei meinem Psycho habe. Sie verspricht, im Sekretariat Bescheid zu sagen.
    Ich schnappe mir die Schlüssel.
    015.00
    In den Vorgärten, an denen ich vorbeifahre, herrscht Dekorationschaos – in den einen stehen noch die aufblasbaren Truthähne von Thanksgiving, in den anderen schon die Schneemannattrappen, und edle Adventskränze hängen an den Haustüren. An jedem Briefkasten klebt der Hinweis auf ein Kameraüberwachungssystem. Die Wohngegend hier ist nicht so teuer wie die, wo Cassie und ich aufgewachsen sind, aber sie strengt sich mehr an.
    Der Wagen steuert auf die Umgehungsstraße zu. Ich weiß, dass ich mich wieder verfahren werde. Ich verfahre mich dauernd. Ich hätte mir zu Hause die Wegbeschreibung ausdrucken sollen.
    Wer ist dieser

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