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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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Typ und woher hat er meine Telefonnummer und ist das ein Betrüger und sollte ich vielleicht die Polizei rufen?
    Ich drehe die Heizung auf Saunatemperatur. Die erste Ausfahrt führt zu ein paar niedrigen Bürobauten mit halb leeren Parkplätzen. Ich fahre denselben Weg zurück auf die 101. Bei meinem Glück komme ich bei der nächsten Ausfahrt wahrscheinlich am College raus und treffe direkt auf meinen Vater oder auf einen seiner raffinierten Absolventen.
    Dritte Abfahrt: River Road. Rechts abbiegen. Kleine Läden tupfen die Häuserfronten: ein Nagelstudio, ein extrabilliger Billigladen, Imbiss, Matratzengeschäft, Karateschule, Möbelverleih. Im Waschsalon steht ein kleiner Junge, dem ein Fläschchen aus dem Mund hängt, auf einem Stuhl und presst beide Hände an die Fensterscheibe. Als er lächelt, fällt die Flasche zu Boden. Hinter ihm stopft eine Frau Wäsche aus einem schwarzen Müllbeutel in eine der Maschinen.
    Ich rolle aus der Ödnis hinaus, vorbei an ein paar verkrüppelten Zedern und einer mit Brettern vernagelten Kirche. Ein paar Kilometer weiter – Blinker setzen, Blick in den Rückspiegel – biege ich links auf das Gelände des Gateway Motels ein. Parkplätze gibt es massenhaft.
    Das Gebäude erinnert mich an Emmas Schuhkarton-Diorama. Alle paar Meter sind Löcher reingeschnitten: fette für Fenster, dünne für Türen. Wegen der lecken Dachrinnen sind die abblätternden Stuckwände mit Rostflecken übersät. Das Büro liegt am anderen Ende des Parkplatzes, wo ein rotes Neonschild im Fenster blinkt: ZIMMER F EI .
    Ich steige aus, schließe das Auto ab und laufe hinüber, wobei ich einen großen Bogen um den halb gerupften Kadaver eines Vogels mache.
    016.00
    Im Büro ist es genauso kalt wie draußen. Im Anmeldetresen klafft ein stiefelgroßes Loch. Dahinter sitzt ein alter Mann mit Brille, der seine Glatze mit ein paar quer gekämmten Strähnen schlecht kaschiert hat, und liest Zeitung. Der Minifernseher, der an der Wand hängt, läuft mit flackerndem Bild und ohne Ton. Über einem Regal, auf dem ein paar ausgeblichene Touristenprospekte über den Canobie-Lake-Park, die Robert-Frost-Farm und das Schneemobilmuseum von New Hampshire ausliegen, ist ein zerkratzter Münzfernsprecher angebracht. Auf der einen Tür steht PRIVAT , auf der anderen TOILETTE – NUR FÜR GÄSTE .
    Ich habe hier nichts verloren. Ich sollte im Unterricht sitzen, Trigonometrie. Nein, Geschichte. Ich sollte wieder ins Auto steigen und zur Schule fahren, an Zebrastreifen die Geschwindigkeit drosseln und an gelben Ampeln anhalten. Mich an all die aufgestellten Schilder mit den Geschwindigkeitsbegrenzungen halten.
    »Ja?« Der Mann blickt zu mir auf und blinzelt. »Willst du ein Zimmer?«
    Ich schüttele den Kopf. »Nein, Sir.«
    »Na, was dann?« Seine Stimme trieft vor Teer. »Kommst du, um zu sehen, wo sie gestorben ist?« Es ist nicht die Stimme auf dem AB .
    Ich nicke unmerklich.
    »Einmal gaffen macht zehn Mäuse.« Er hält die Hand auf und schnippt die Finger Richtung Handfläche.
    Ich öffne meinen Geldbeutel. »Ich hab nur fünf.«
    »Passt auch.« Kaum hab ich ihm den Schein gegeben, brüllt er: »Eliiii-jah!«
    Die Tür zur Toilette öffnet sich. Der Typ, der herauskommt, wirkt ein paar Jahre älter als ich und ist bestimmt dreißig Zentimeter größer, mit dickem schwarzem Haar, das ihm bis zu den Schultern geht. Seine Haut ist weiß wie Zucker, und unter einem dünnen Bart graben sich Krater in sein Gesicht wie auf einem Lavafeld. Er trägt Stiefel mit Stahlkappen, eine schlabberige schwarze Arbeitshose und ein Footballteam-Sweatshirt, das am Kragen gerissen ist. Seine Augen haben die Farbe von Rauch und sind dick mit Eyeliner umrandet. Ein brauner Stecker aus Holz füllt sein gesamtes linkes Ohrläppchen aus.
    Er schwenkt den blitzenden Schraubenschlüssel in seiner Hand und grinst. »Ihr habt nach mir gerufen, Eure Schleimigkeit?«
    Das ist die Stimme.
    »Sie will es sehen«, sagt der Ältere, während er sich mein Geld in die Tasche steckt. »Zeig’s ihr.«
    Sein Übermut schwindet und das Lächeln erstirbt. Er legt den Schraubenschlüssel auf den Tresen und murmelt: »Komm mit.«
    Als ich gehe, ruft der Alte mir nach: »Wehe, du klaust was! Das ist alles Eigentum des Motels!«
    Wir laufen an Metalltüren vorbei: 103, 105, 107. Bei 109 fehlt der Türknauf. Auf 111 ist ein schwarzer Schriftzug gesprüht, aber ich kann nicht entziffern, was da steht.
    Vor dem Zimmer mit der Numme r 113 bleibt der Typ so abrupt stehen,

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