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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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raus.
    ::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
    Ein lila Robotermonster schleudert einen riesigen Lastwagen nach einem Fuchsjungen. Die Lautsprecher vibrieren mit Donnerhall, als der Laster zu Boden kracht. Die Kinder im Zuschauerraum sehen nicht mal hin, sondern kloppen sich um Popcorn und Süßigkeiten und jammern, sie müssten mal aufs Klo.
    Die Schachtel geht auf und Klingen gleiten heraus, ein süßes Flüstern.
    Früher war mein ganzer Körper meine Leinwand – brennende Schnitte, die wie Flammen an meinen Rippen leckten, Leitersprossen, die meine Arme emporkletterten, dicke Stängel von Unkraut, die um meine Schenkel wucherten. Als ich ins Jenniferland zog, stellte mein Vater eine Bedingung. Eine Tochter, die vergisst, wie man isst, war zwar schlimm, aber das war eben eine Phase, und die hatte ich überwunden. Aber eine Tochter, die ihre Hauthülle öffnet, die ihren Panzer abwirft, damit sie tanzen kann? Das war schlicht und ergreifend krank.
    Kein Ritzen, Lia Marrigan Overbrook. Nicht unter meinem Dach. Schluss, aus, Ende.
    Vertragsbruch.
    Auf der großen Leinwand verwandeln die Fuchshelden ihre Augen in Blitze. Sie beißen die Zähne zusammen und zucken, wenn die Monster sie an den Berg schleudern, aber jedes, jedes Mal stehen sie wieder auf, rücken ihre roten Halstücher zurecht und lachen.
    All die Schlechtheit kocht mir unter der Haut wie prickelnde Gingeralebläschen, die an die Luft wollen. Ich öffne meine Jeans, ziehe den Reißverschluss Zahn um Zahn weiter herunter. Drehe mich auf die rechte Seite und ziehe den Gummizug meines Slips nach unten. Meine linke Hüfte wölbt sich nach oben, blau schimmernd im Kinolicht.
    ::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
    Ich ritze dreimal in meine Haut, drei zarte Linien untereinander: Sei still, sei still, sei still . Geister tröpfeln heraus.
    Die Verwandlungskünstler schnallen sich Flugdüsen auf den Rücken und folgen den Monstern auf einen Asteroiden. Eines der Kindermädchen Eine der Mütter schleift das Kind, das pinkeln muss, ins Foyer hinaus.
    Ich lege die Klinge zurück in die Schachtel und die Schachtel zurück in die Tüte und presse meine Hand auf die feuchten Schnitte, bis der Abspann läuft. Kurz bevor das Licht angeht, stecke ich mir die Finger in den Mund.
    Ich schmecke metallisch, wie dreckiges Kleingeld.
    018.00
    Nach einem albtraumhaften Tag bringt mich der Wagen fort vom Kino, dem Drogeriemarkt und jenem Motel, das Mädchen zu kleinen Häppchen zermalmt. Wir rollen zurück auf den Highway und die Hügel hinauf, erklimmen unsere Siedlung, zurück zum Haus meines Vaters, das in den Wolken liegt.
    Alle drei haben sich um den Esstisch versammelt, die Kerzen tanzen zur Cembalomusik, die aus den Boxen wabert. Die Luft ist feucht vom Essensgeruch – Truthahnreste, stinkender Rosenkohl, Salat, Vollkornbrötchen, mit Käse überbackene Kartoffeln, Emmas Leibgericht. Ein Familienessen zur Erinnerung, dass wir eine Familie sind. Wir sind keine Realityshow (noch nicht) oder Fremde, die sich ein Haus teilen und hinterher die Rechnung. Wir sind kein Motel.
    Gegenüber von Emma ist ein leerer Platz – Teller, Papierserviette, Besteck aus rostfreiem Edelstahl. Als meine Eltern sich trennten, bekam Mom das Tafelsilber. Das von Oma Marrigan, die immer sagte, dass Essen mit Billigbesteck nach Blech schmeckt. Sie hatte Recht.
    Dad blickt auf, an seiner Gabel baumelt ein Stück Truthahn. »Du bist spät dran, Kleine. Setz dich doch.«
    »Ich bin länger geblieben, um noch an einem Projekt zu arbeiten. Darf ich oben essen? Ich ertrinke in Hausaufgaben.«
    Emma hüpft auf ihrem Stuhl auf und ab. »Ich hab die Kartoffeln gemacht, Lia. Fast ganz allein!«
    Jennifer nickt. »Bitte, Lia. Es ist schon eine ganze Weile her, dass wir schön gemeinsam gegessen haben.«
    Mein Magen zieht sich zusammen. Dort drinnen ist für all das kein Platz.
    »Ich hab den Sparschäler benutzt und ein Messer!« Emma grinst so breit, dass die Glastropfen, die vom Kronleuchter herabhängen, vibrieren. »Und Mom hat die ganzen Kartoffeln in Scheiben geschnitten.«
    »Toll.« Ich ziehe meinen Stuhl hervor und setze mich. »Wenn du sie gemacht hast, müssen sie lecker sein.«
    Dad schluckt und zwinkert mir zu.
    »Kann ich den Salat haben?«, frage ich.
    Er reicht mir die Kasserolle mit Bratensaft und Truthahnresten. Ich brauche beide Hände, um sie zu halten, weil sie mehr wiegt als alles andere auf dem Tisch,

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