Wintermädchen
die gerade eine miese Phase durchmachen, seid ganz doll gedrückt!
Ihr schafft alles, wenn ihr euch genug Mühe gebt!
Als alle im Haus schlafen, mache ich die Musik aus und zünde eine Kerze an. Cassie sitzt auf der Fensterbank und guckt zu, wie ich meine Linien mit der Rasierklinge ziehe, vollkommen gerade, auf meiner rechten Hüfte.
Jetzt passt sie zur linken.
030.00
Am Samstagmorgen halte ich auf dem Weg zu Elijah an einem Laden und kaufe eine Karte und einen Kompass. Das Navi steht inzwischen mit Rotstift auf meinem Wunschzettel für Weihnachten. Was ich eigentlich richtig dringend bräuchte, ist eine Kristallkugel, aber die kann man hier nirgends kaufen.
Kaum dass ich wieder im Wagen sitze, öffne ich die Schachtel und hole den Kompass hervor. Doch ganz egal, wie ich ihn halte, die kleine Nadel dreht und dreht sich unablässig über der Skala.
Ich will mein Geld zurück.
Anstatt mich zu lotsen, redet Elijah die ganze Zeit über seine Pläne, nach Weihnachten Richtung Süden zu fahren. Wir verfahren uns gleich nach Verlassen des Motels und verlieren Zeit, indem wir Straßen benutzen, die gar nicht auf der Karte sind.
Als wir endlich zwischen den beiden steinernen Greifvögeln hindurch auf das Friedhofsgelände »Bergblick« fahren, sind wir spät dran.
Ein hagerer Typ im langen, schwarzen Mantel und mit einem Cowboyhut auf dem Kopf winkt mich zu einem kleinen Parkplatz. Mein Wagen ist der dritte dort.
Ich steige aus und wünschte, ich hätte eine Jogginghose an, denn die Luft riecht nach Schnee. Ich zerre am Saum meines Kleides und erschaure. Das Mädchen im Spiegel sah heute Früh fast hübsch aus: frisch gewaschenes Haar, dezent geschminkt, antike Silberohrringe, ein spinnengraues, kurzärmeliges Kleid (Konfektionsgröß e 0), das ihm gerade bis zu den Knien ging, und mörderhohe Absätze. Aber ich habe ganz vergessen, dass draußen nur ein paar Grad über null herrschen.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragt Elijah, als wir die Wagentüren zuschlagen.
Der Mann mit dem Hut kommt zu uns herüber. »Wenn ihr zwei euch beeilt, seid ihr vielleicht noch rechtzeitig oben, ehe der Gottesdienst losgeht.«
»Wo oben?«, frage ich.
»Na, auf dem Hügel da«, sagt er und deutet auf eine steile Straße. »Da findet der Gottesdienst für die Familie Parrish statt. Ihr müsst laufen. Die Parkplätze oben sind alle belegt. Schönen Tag noch.« Er macht die winzigste Andeutung einer Verbeugung und tritt den Rückweg zu seinem Platz an der Einfahrt an.
»In denen hier schaff ich das nie und nimmer«, sage ich und zeige auf meine Schuhe. »In denen komme ich ja kaum bis zur Toilette.«
»Warum ziehst du sie dann an?«, fragt Elijah. Er trägt dunkle Jeans, Arbeiterschuhe, dasselbe Hemd und die Krawatte, die er schon auf der Totenwache anhatte, und dazu eine Tarnjacke. Sein Ohrring ist ein massiver schwarzer Pflock.
»Weil sie gut aussehen.«
»Nein, tun sie nicht«, widerspricht er. »Wenn sie dir wehtun, sind sie hässlich.« Er macht einen leichten Buckel und geht in die Knie. »Na los«, sagt er. »Spring auf.«
»Was?«
»Ich trag dich da hoch. Wird mich zwar wahrscheinlich umbringen, aber wenigstens sterbe ich als Märtyrer mit Heiligenschein.«
»Nicht nötig.« Ich öffne den Kofferraum meines Wagens und krame darin herum, bis ich ein paar alte, knöchelhohe Sportschuhe finde, schmutzig weiß und übersät mit blauen Tintenblumen, die ich im Geschichtsunterricht gezeichnet habe. »Ich zieh die hier an.«
Ich setze mich auf die Stoßstange, ziehe die Stöckelschuhe aus und die Turnschuhe an. Sie riechen, als hätten sie in einem Kofferraum voller Müll ein Jahr lang vor sich hin gebrütet, aber meine Zehen freuen sich.
Ich erhebe mich. »Schick, was?«
Elijah mustert die Turnschuhe und das Kleid und merkt, dass ich zittere. Er zieht seine Jacke aus und gibt sie mir. »Keine Widerrede.«
Seine Jacke trieft vor Körperwärme und riecht nach Benzin und nach Mann. »Danke.«
»Jetzt«, sagt er, während er mich zum zweiten Mal von Kopf bis Fuß mustert, »jetzt siehst du gut aus.«
031.00
Als wir endlich oben ankommen, fühle ich mich nicht gut. Die frischen Ritzer an meiner Hüfte tun weh, und ich bin mir sicher, dass einer aufgegangen ist und blutet. Mit jedem Schritt, den ich mich Cassie nähere, wird mir frösteliger und matter zumute. Auch Elijah wirkt plötzlich unsicher. Er geht mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Überall auf dem Gipfel des Hügels
Weitere Kostenlose Bücher