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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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wimmeln Käfer mit schwarzen Rücken, Hunderte, die sich zum Aasfestmahl eingefunden haben. Schüler und Lehrer. Die Eltern, die immer überall dabei sind. Die Mitglieder der Theatergruppe stehen in Dreier- oder Vierergrüppchen herum, die Fußballmannschaft ist ein fester Block, die meisten von ihnen im Trikot. Meine Mutter ist nirgends zu sehen.
    »Wie nah willst du ran?«, fragt Elijah mich leise.
    »So nahe es geht.«
    Er seufzt. »Okay. Mir nach.«
    Wir schlängeln uns durch die Menge auf das weiße Pavillonzelt zu. Dort sitzen Cassies Eltern und andere Verwandte auf Plastikstühlen und lauschen dem Pfarrer, der neben M r Parrish steht und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hat.
    Der Sarg ist über und über mit blassrosafarbenen Rosen bedeckt und ruht auf einer Metallstütze wie ein heißes Keksblech auf einem Gestell zum Abkühlen. Streifen aus Kunstrasen sollen das Stützgestell verdecken, aber der Wind hat sie abgelöst.
    Ich stelle mich auf die Zehenspitzen. Wenn wir noch ein wenig dichter dran wären, könnten wir bis auf den Grund der Grube gucken.
    Cassies Eltern können es. Nur ein paar Zentimeter vor ihren Füßen klafft die Öffnung.
    Ein bienenkorbförmiger Erdhaufen ragt hinter dem Zelt auf und wartet darauf, dass der Gottesdienst zu Ende ist. Die Totengräber werden die Erde in die Grube werfen, damit Cassie nicht mehr nach oben schweben und davonrennen kann.
    Die Berge im Norden verstecken sich hinter einem Schneesturm. Hier unten fegt der Wind über die Reihen der gewittergrauen Grabsteine. Ich schließe die Augen.
    Cassies Maus Pinky starb im Sommer vor Beginn der vierten Klasse. Cassie weinte so bitterlich, dass ich dachte, wir müssten den Krankenwagen rufen oder zumindest meine Mom. Ich half ihr die Treppe hinunter. Ihre Mutter war irgendwo unterwegs und ihr Vater guckte gerade Baseball und befahl Cassie, mit dem Weinen aufzuhören. Nach dem Spiel würde er die tote Maus in den Müll tun.
    Cassie beherrschte sich, bis wir wieder in ihrem Zimmer waren. Dann warf sie sich aufs Bett und heulte. »Ich will ihn aber nicht in den Müll tun!«
    »Machen wir auch nicht«, sagte ich. »Wir werden ihn anständig beerdigen.«
    Ich benutzte einen Bratenwender, um Pinky aus seinem Käfig zu hieven, und legte ihn auf Cassies blaues Lieblingskopftuch. Dann rollte ich ihn ein wie einen Mausburrito und verschnürte ihn mit Zwirn. Ich sagte ihr, sie könne ihn runtertragen, aber als sie das Kopftuch berührte, schrie sie auf.
    Ich zog mir Ofenhandschuhe über und trug Pinky in den Garten. Cassie kam mit einer kleinen Schaufel hinterher.
    Im Rosengarten ihrer Mutter ging das Graben am einfachsten. Jeder Strauch hatte einen Namen, der in Schönschrift auf einem handgeschriebenen Schildchen stand. Wir entschieden uns für Mordent Blush und Nearly Wild , kratzten den frischen Mulch weg und schaufelten zwischen den beiden Rosensträuchern ein Loch.
    Ich tat ein bisschen so, als würde ich Latein sprechen, und intonierte fast das ganze Vaterunser. Cassie fügte lange »Ommmmmms« hinzu und behauptete, es sei Chinesisch. (Ihre Eltern förderten das Erforschen fremder Kulturen.) Und während sie ommte, legte ich Pinky in das Loch und bedeckte ihn mit Erde.
    »Hoffentlich buddelt ihn kein Hund aus«, sagte ich.
    Ihre Gesichtszüge entgleisten.
    »Warte mal.«
    Ich rannte über die Straße und holte den Plastikeimer mit Steinen aus meinem Zimmer, die ich mal am Strand gesammelt hatte. Die legten wir aufs Grab, verteilten den Mulch darauf und leierten noch ein paar Gebete runter. So standen wir mit geschlossenen Augen da, hielten uns an den Händen und schworen, dass wir unseren unvergleichlichen Pinky nie, niemals vergessen würden.
    Im Sommer darauf gewann die Nearly-Wild -Rose von Cassies Mutter den Großen Preis des Rosenzüchterverbands von Greater Manchester. Die Zeitung druckte eine farbige Doppelseite über den Garten und die Familie Parrish schmiss eine Party, um ihren Erfolg zu feiern.
    Der Prediger steht am Kopfende des Sarges und breitet die Arme aus, um die Götter herbeizurufen. Er dankt allen für ihr Kommen, und dann senkt sich seine Stimme, sodass man ihn nicht mehr verstehen kann. Noch ein paar Nachzügler kommen den Hang hinaufgehastet, versuchen, sich zu beeilen, ohne aufzufallen. Eine von ihnen ist eine große Frau mit Stiefeln und einem langen Nerzmantel. Ihr strohblondes Haar ist zu einem makellosen französischen Zopf geflochten und sie trägt die obligatorische Sonnenbrille, obwohl die Wolken

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