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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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sie können. Wenn ich Mr s Parrish wäre, würde ich nicht zulassen, dass sie gehen. Würde sie bitten, für ein paar Monate einzuziehen. Oder wildfremde Leute dafür bezahlen, jedes Zimmer zu besetzen, meinen Kühlschrank leer zu futtern und die Teppiche einzusauen, nur damit das Haus nicht so leer wäre.
    »Hat sie irgendwas dabei gefühlt?«
    Mom knipst die Lampe an, die neben ihr auf dem Tisch steht. »Ich fürchte, ja. Sie muss furchtbare Angst gehabt haben und war allein, als sie starb. Ein schrecklicher Tod.«
    Ich bin ein Eisberg, der auf das Ende der Landkarte zutreibt.
    »Das glaube ich dir nicht«, sage ich. »Das erfindest du doch nur, um mir Angst einzujagen.«
    »Ich brauche gar nichts zu erfinden. Sie ist tot, du warst bei ihrer Beerdigung. Cindy kann dir den Autopsiebericht zeigen, wenn du willst.«
    »Ich will nicht mehr reden.«
    Mom beugt sich vor. »Es ist in Ordnung, wenn dich das aufwühlt. Ehrlich gesagt ist mir das lieber, als wenn du so tust, als ob es dich gar nicht berührt.«
    »Mach dir mal keine Sorgen.« Ich setze mich auf und beginne, mir das Haar zu flechten. »Ich bin traurig, dass sie gestorben ist, und wirklich sehr traurig, dass es so ein mieser Tod war, aber davon lass ich mir nicht mein Leben kaputt machen. Wir waren schon vor dem letzten Sommer nicht mehr so eng befreundet wie in unserer Kindheit.«
    Wir lauschen dem Heulen des Windes.
    »Cindy möchte gern mal mit dir reden«, sagt Mom. »Sie meinte zu mir, du wärst die Einzige, die ihr helfen könnte, zu verstehen, warum es geschehen ist.«
    »Warum?«
    Sie nickt. »Cassie hatte alles: die Liebe ihrer Familie, Freunde, Hobbys. Ihre Mutter möchte wissen, warum sie all das weggeworfen hat.«
    Warum?
    Ihr fragt nach dem Warum?
    Geht in ein Sonnenstudio und grillt euch dort zwei oder drei Tage lang. Wenn die Haut Blasen wirft und sich abpellt, wälzt ihr euch in grobkörnigem Salz und zieht dann langärmelige Unterwäsche aus einem Glassplitter-Stacheldraht-Mischgewebe an. Darüber tragt ihr eure normale Kleidung, Hauptsache, schön eng.
    Raucht Schwarzpulver und geht zur Schule, um dort durch Reifen zu springen, Männchen zu machen und euch auf Befehl auf dem Boden hin und her zu rollen. Horcht auf das Geflüster, das sich nachts in eure Köpfe schlängelt und euch hässlich und fett und dumm und Schlampe und Hure nennt. Und »eine Enttäuschung«, das ist das Schlimmste.
    Kotzt und hungert und ritzt und sauft, weil ihr all das nicht mehr fühlen wollt. Kotzt und hungert und ritzt und sauft, weil ihr was zum Betäuben braucht, und es funktioniert. Eine Zeit lang. Aber dann wird das Betäubungsmittel zur Droge, und dann ist es auch schon zu spät, weil ihr euch das Gift inzwischen spritzt, direkt in eure Seelen. Es lässt euch verfaulen und ihr könnt nicht damit aufhören.
    Bei jedem Blick in den Spiegel seht ihr einen Geist. Bei jedem Herzschlag hört ihr einen Schrei und ihr wisst, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts mit euch stimmt.
    »Warum?« ist die falsche Frage.
    Fragt lieber: »Warum nicht?«
    ***
    Der Piepser auf dem Küchentisch geht wieder los. Mom flucht, wirft einen Blick auf die Nachricht und tätigt den erlösenden Anruf. »Dr . Marrigan.« Lauscht und hastet dann zur Küche hinaus und die Treppe hinauf. Ich sinke zurück aufs Kissen.
    Die Decke hat sich endlich aufgeheizt und ich verkrieche mich darunter. Mein Mäusemagen wimmert, weil Mom fast 100 0 Kalorien in mich hineingezwungen hat. Um das alles wieder auszugleichen, muss ich bis zum Abendessen morgen stark bleiben.
    Ich tauche we g …
    »Lia, wach auf!« Sie rüttelt mich wieder an der Schulter. »Ich muss los. Ins Krankenhaus.« Ihr Blick ist zwar auf mich gerichtet, aber was sie sieht, sind EKG -Aufzeichnungen und Blutbildberichte und die saubere, rauchende Linie des Laserskalpells, mit dem sie in ein oder zwei Stunden den Brustkorb ihres Patienten öffnen wird.
    Ich richte mich auf und greife zitternd nach der Bedienung für die Heizdecke. »Dieses Ding ist kaputt.«
    »Ich hab den Stecker rausgezogen, damit du dich nicht verbrennst.« Sie zieht den Reißverschluss ihres Mantels hoch und drückt mir einen Kuss aufs Haar. »Tut mir leid, dass ich weg muss. Ruh dich ein bisschen aus.«
    Beim Rausgehen knallt sie die Tür zu, aber nicht aus Wut. Dr . Marrigan knallt grundsätzlich mit Türen, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich zu sind.
    037.00
    Das Haus meiner Mutter atmet und isst. Die Spülmaschine durchläuft die Arbeitsgänge VORSPÜLEN

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