Wintermädchen
nicht, dass ich dir das sage, aber was soll’s. Ich liebe dich, Lia. Als ich deinen Vater heiratete, habe ich geschworen, dich so zu lieben wie mein eigenes Kind. Aber du hast meiner kleinen Tochter wehgetan.«
Sie zittert vor Wut.
»Dein Hungern hat ihr wehgetan, deine Lügen haben ihr wehgetan, und dass du jeden bekämpfst, der dir zu helfen versucht. Im Moment kann Emma nur ein paar Stunden pro Nacht schlafen. Sie hat Albträume von Monstern, die unsere gesamte Familie auffressen. Sie fressen uns langsam auf, sagt sie, damit wir ihre scharfen Zähne spüren.«
Mein Herz schaltet vom Leerlauf in den vierten Gang, beschleunigt wie ein Rennwagen, der auf der Spur ins Schleudern gerät.
»Es tu t …«
Sie lässt meinen Arm los und legt mir die Hand auf den Mund. »Sei still. Du gehst jetzt da rein und erzählst dieser Frau dort die Wahrheit. Sag ihr, was in deinem Kopf los ist und warum du diese Dinge tust. Und sag ihr, dass es ganz danach aussieht, dass du nie wieder bei deinem Vater wohnen kannst, also findet ihr zwei am besten raus, wie du mit deiner Mutter klarkommst.«
»Ich darf nicht zurück?«
»Ich werde nicht zulassen, dass du Emma mit zugrunde richtest. Niemals.«
Sie zieht sich wieder auf ihren Sitz zurück, ihre Vorstadtstiefmutter-Maske sitzt akkurat an ihrem Platz. »Vier Uhr. Vielleicht etwas später, je nachdem, wie frei die Straßen sind.«
053.00
Die Empfangsdame, Sheila, sitzt nicht an ihrem Platz. Wahrscheinlich ist sie früher nach Hause gegangen, um für Weihnachten zu kochen. Ich drücke mein Ohr an die Bürotür von Dr . Parker; drinnen weint jemand. Die Stimme der Therapeutin murmelt, dann ist das nervige Klingeln der Zeitstoppuhr zu hören.
Ich blicke zu Boden, während die weinende Patientin durch das Wartezimmer geht und die Tür öffnet, die in den Sturm hinausführt. Sie schnieft immer noch und hat vor lauter Schluchzen einen Schluckauf.
Zwischen den Sitzungen geht Dr . Parker immer ins Bad und legt manchmal auch eine Meditationspause ein. Es wird noch mindestens fünf Minuten dauern, bis sie mich hereinruft. Ich bin darauf eingestellt und hab mich mit meinem Strickzeug ausgerüstet. Ich muss mit diesem Schal/dieser Stola/dieser Decke fertig werden, damit ich Emma was stricken kann. Eine Mütze vielleicht. Oder einen Pullover für ihren Plüschelefanten.
Ich schaue aus dem Fenster. Draußen auf dem Parkplatz steckt ein Wagen im Schnee fest. Der Motor heult auf, als die Fahrerin die Reifen durchdrehen lässt, aufs Gaspedal tritt, ohne so recht vom Fleck zu kommen. Schneepflüge rumpeln mit rasselnden Ketten und Klingen vorbei, Funken sprühen, während sie das Eis von der Straße kratzen. Alles ist mit Schnee bedeckt. Es sieht aus wie eine andere Welt.
»Scheußlich, was?«, sagt Cassie.
Mein Herz knallt gegen den Brustkorb.
Sie sitzt auf der anderen Seite des Raums, die Füße auf dem Beistelltisch, auf dem Schoß eine Zeitschrift mit aufgeschlagener Kreuzworträtselseite. Sie ist passend zum Wetter gekleidet: blaues Totenkleid, graue Skijacke, Strickmütze, auf dem Stuhl neben ihr die dazu passenden Fäustlinge, feuchte, gefütterte Stiefel.
»Die nerven echt immer rum, oder? Dauernd heißt es: ›Red mit der Therapeutin, red mit deiner Mutter, tu, was man dir sagt, wann wirst du endlich erwachsen?‹« Sie füllt ein paar Kästchen im Kreuzworträtsel aus und radiert dann alles wieder weg. »Dreizehn senkrecht. Anderes Wort für Vertrag, vier Buchstaben?«
»Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«
»Ich vermisse dich.«
Ich bekomme das Gefühl, dass ich gleich in Ohnmacht falle. Ich lehne mich gegen Sheilas Schreibtisch und kneife in eine der Schnittwunden zwischen meinen Rippen. Der Schmerz weckt mich auf wie ein Elektroschocker. »Du weißt, was Emma gesehen hat, oder?«
Cassie trägt ein Lösungswort ein. »Bund, das passt. Vielleicht.«
»Nicht zu fassen, dass ich ihr das angetan habe.«
»Du verdienst es nicht zu leben.« Sie sagt es, als würde sie mir mitteilen, welche Jeans mir steht. »Nimm das nächste Mal ein größeres Messer. Schneide tiefer. Bring es hinter dich.«
»Ich glaube nicht, dass ich sterben will.«
Sie schnaubt verächtlich. »Ja, schon klar. Du kannst doch nicht mal eine Schüssel Cornflakes essen, ohne einen Nervenzusammenbruch zu kriegen! Glaubst du im Ernst, dass du jemals irgendwas Schwieriges hinkriegst, aufs College gehen zum Beispiel? Dir einen Job besorgen? Allein leben? Einkaufen gehen? Uuuuuh – Hilfe!«
Dr . Parkers
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