Wintermädchen
Mom hat das Etikett abgemacht und die PC -Kabel verschwinden lassen, damit ich die Kalorien nicht kontrollieren kann.) Außerdem esse ich eine kleine Banane (90). Sie schmeckt nach Banane.
Mom isst einen Hähnchensalat mit Schlabberdressing und zwei Scheiben Pumpernickel. Dann sieht sie sich eine Dokumentation über Südkorea an, während ich so tue, als würde ich lesen. Als der Film vorbei ist, schaut sie nach meinen Nähten, fühlt meinen Puls, misst den Blutdruck und gibt mir Medikamente, sogar meine Schlaftablette.
Ich schlafe schneller ein, als ich will, und wache mitten in der Nacht wieder auf, wieder verwirrt, weil ich nicht weiß, wo ich bin und warum und wer. Tausend Finger greifen durch die Matratze hindurch nach mir, durchbohren meine Haut, um an meinen Knochen zu kratzen. Ich springe aus dem Bett und beginne hin und her zu gehen, um das Gefühl abzuschütteln.
Drüben vor Cassies Haus buddelt ein Wolfsrudel im Rosenbeet. Es ist auf der Suche nach fressbaren Körpern und Knochen, die sich knacken lassen. Ich merke nicht mehr, wann ich schlafe und wann ich wach bin oder was davon schlimmer ist.
052.00
Hoch- und Tiefdruckgebiete haben sich über Nacht verlagert. Anstatt aufs Meer hinauszublasen, hat sich der Wintersturm nun mitten über Neuengland festgesetzt. Für heute sind mindestens sechzig Zentimeter Schnee angesagt.
Ich überlege, irgendjemanden anzurufen, der mit Emma Schlitten fahren geht. Mira vielleicht. Oder Sasha. Würden sie überhaupt rangehen, wenn sie wüssten, dass ich der Anrufer bin?
Wenn ich an Emma denke, würde ich mir die Fäden am liebsten mit einer Zange rausreißen. Für das, was ich ihr angetan habe, müsste man mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Oder mich auf einer treibenden Eisscholle aussetzen. Ich wünschte, man könnte sie das, was sie gesehen hat, irgendwie vergessen machen, ihre Erinnerung daran irgendwie auslöschen. Es gibt auf der ganzen Welt nicht genügend Seife und Putzzeug dafür.
Ich bräuchte gar keine Zange. Ich könnte die Fäden mit der Nagelschere durchschneiden und dran ziehen, bis dieser Körper hier auseinanderfällt.
Meine Mutter ruft mich. Ich gehe nach unten.
Der Wachhund Krankenschwester Melissa kommt, als wir mit dem Frühstück fertig sind (eine halbe Grapefruit = 37, trockener Toast = 77), nach einem Riesendrink mit Elektrolyten (= ?) und hübschen Pillen (= weiße Samttücher umhüllen mein Gehirn). Sie ist nur wenige Jahre älter als ich und hat schon diese Wag-es-ja-nicht-Falten auf der Stirn, die gute Krankenschwestern vom Dauerbösegucken bekommen.
Eine Stunde später pinkele ich fünfhundert Milliliter gelbes Wasser. Melissa steht im Bad und sieht mir zu.
»Dafür wirst du nicht gut genug bezahlt«, bemerke ich.
Sie gibt den Flüssigkeitsbericht per Telefon an Mom Dr . Marrigan weiter.
Ich möchte so gern wissen, wie viel ich wiege. Hier gibt es keine Waage, und im Krankenhaus wollte es mir keiner sagen. Sie haben so viel Glibberkram in mich hineingepumpt, dass ich bestimmt vier Kilo zugenommen habe. Von dem ganzen neuen Fett juckt meine Haut. Sie wird aufreißen und sich abschälen. Melissa gibt mir Hautcreme und schaut dabei zu, wie ich mir Arme und Beine einreibe.
Den ganzen restlichen Morgen über schlafe ich unter einem Berg aus Decken.
Jennifer fährt mich, ohne einen Ton zu sagen, zu Dr . Parker. Ich kann’s ihr nicht verübeln. Ich an ihrer Stelle würde auch nicht mit mir reden. Bestimmt hat sie Angst, mich tagelang ununterbrochen anzubrüllen, wenn sie erst einmal den Mund aufgemacht hat, und dann wäre Weihnachten endgültig im Eimer.
Die ganze Strecke über fährt ein Schneepflug vor uns. Das Autoradio ist voll aufgedreht, Jennifers Hände klammern sich so fest ans Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortreten. Das Schneetreiben macht es schwer, sich zu orientieren, und wir sehen kaum was, bis wir dem Schneepflug fast hinten drauffahren.
Schließlich biegt Jennifer zum Bürokomplex ab und hält am Bordstein.
Ich wage einen Versuch. »Also dan n … bis um vier, ja?«
Sie nickt einmal. Ihre Augen starren in den Sturm.
»Und, äh, ich komme dann also am Weihnachtsmorgen zu euch rüber? Damit wir zusammen Geschenke auspacken können?«
»Deine Mutter soll mich anrufen.« Sie dreht das Gebläse auf, um die Wärme wegzupusten.
»Okay.« Ich öffne die Wagentür.
»Warte.« Jennifer packt mich am Arm. Zum ersten Mal, seit ich auf der Tragbahre festgeschnallt wurde, blickt sie mir in die Augen. »David will
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