Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
Vom Netzwerk:
Klospülung ist zu hören.
    Ich rücke ein Stück näher zur Tür. »Warum bist du so gemein?«
    »Freunde sagen sich nun mal die Wahrheit.«
    »Ja, aber nicht um zu verletzen. Sondern um zu helfen.«
    Gerade sitzt sie noch in dem Sessel am Fenster. Dann steht sie urplötzlich vor mir, direkt vor meiner Nase, und lässt die Temperatur auf den Nullpunkt sinken. Ihre Haut ist rau wie eine Friedhofsstatue. Ihr Geruch erstickt mich.
    »Du willst, dass ich dir helfe, Lialein?«
    Kann man Gespenster töten, indem man ihnen eine Stricknadel ins Herz stößt? Oder kann man sie dadurch wenigstens in die Erde zurückverfrachten, wo sie hingehören?
    »So wie du miiiir geholfen hast?« Sie dehnt das Wort so lang, dass es in ihrer Kehle rasselt. »Wie wär’s denn damit: Du bist nicht schlank. Du bist ein Walross voller Eiter. Deine Mutter wünscht, sie hätte dich zur Adoption freigegeben. Dein Vater bezweifelt insgeheim, dass du seine leibliche Tochter bist. Die Leute lachen dich aus, wenn dein Fett wabbelt. Du bist hässlich. Du bist dumm. Du bist langweilig. Das Einzige, was du gut kannst, ist hungern. Und nicht mal das bekommst du richtig hin. Du bist ein hoffnungsloser Fall.«
    Sie zwinkert. »Und genau dafür liebe ich dich. Beeil dich, ja?«
    Dr . Parker öffnet die Tür. »Können wir?«
    054.00
    Sie stellt den Heizlüfter an und gibt mir vorsorglich eine zweite Decke, die ich über die hässliche haarige Afghanendecke legen kann. »Entschuldige, dass es so kalt ist. Diese Fenster müssen wirklich ausgewechselt werden.«
    Ich rolle mich auf der Couch zu einem Ball zusammen und drücke mir mein Strickzeug auf den Bauch.
    Sie nimmt ihre Position hinter dem Schreibtisch ein. »Du hast einiges durchgemacht. Ich bin wirklich froh, dass du hier bist. Diese Nähte tun bestimmt weh, kann ich mir vorstellen.«
    Zunächst halte ich mal fünfzehn Minuten lang den Mund und pflücke mir dabei den weißen Flaum von den Armen. Aber mein Herz ist voller Gift und schwillt an, wirft sich gegen den Brustkorb, so heftig, dass mir die Zähne klappern und meine Nähte kurz vorm Platzen sind.
    »Es fühlt sich an, als hätten sie ein ganzes Meer in mich hineingepumpt«, sagen meine Lippen.
    »Die Infusionen?«, fragt sie.
    »Ich schwappe bei jedem Schritt.«
    »Du warst stark dehydriert. Hattest du auch aufgehört zu trinken? Nicht mal Wasser?«
    Ich hole das Strickzeug aus der Tasche. Rechts, rechts, links. »Ich weiß nicht mehr. Vielleicht.«
    »Was machen die Schnittwunden?«
    »Die Stiche sind schlimmer als die Schnitte. Der Arzt hat zu viele gemacht. Ich kann mich kaum rühren, ohne alles aufzureißen.«
    Sie lässt eine Minute verstreichen, dann fragt sie: »Darf ich die Nähte sehen?«
    »Nein«, sage ich. »Noch nicht.«
    Sie nickt. »Was plagt dich sonst noch?«
    »Dieser Geruch macht mich verrückt.« Mist. Das wollte ich gar nicht sagen.
    »Welcher Geruch?«
    Ich lege die Stricknadeln in den Schoß und sehe zu, wie der Faden sich um meine Hände windet. »Sie riechen es nicht, oder?«
    Sie schüttelt langsam den Kopf, ängstlich bemüht, dieses seltsam daherredende Mädchen, das in meiner Haut steckt, nicht zu erschrecken. »Kannst du ihn beschreiben?«
    »Am Anfang dachte ich, es wären Kekse, Weihnachtsplätzchen, und dass ich das nur rieche, weil mein dummes Gehirn mich irgendwie verführen will zu essen. Aber das ist es nicht. Es ist Cassie. Wenn ich es rieche, ist sie ganz in der Nähe.«
    »Cassie, das ist deine Freundin, die letzten Monat gestorben ist.«
    »Ingwer, Gewürznelken und Zucker. Wie verbrannte Plätzchen. Zuerst war es noch schön. Es hat mich an sie erinnert. Jetzt macht es mir Angst.«
    »Ich verstehe nicht ganz.«
    Oh Gott. Oh Gott. Ich steh auf dem Gipfel eines irrsinnig hohen Berges. Der vereiste Boden erzittert, ein Erdbeben, die Welt unter mir öffnet sich und spuckt Feuer, stählerne Arme wollen mich in den Abgrund ziehen.
    Ich muss mich rühren. Ich halte es hier nicht mehr aus.
    Ich stürze mich vom Berg in die Tiefe und öffne den Mund.
    Ich erzähle von Oma Marrigans Beerdigung und den Schatten, die seither an allen Dingen haften. Ich erzähle ihr von den Geistern, die ich in Schaufensterscheiben und alten Spiegeln sehe, und dass die meisten von ihnen ganz nett sind, aber nicht alle.
    Während meine Lippen sich bewegen, wird der Raum immer schmaler und länger, als bestünden die Wände aus rotem Gummi und würden von einem Riesen zu einem Korridor auseinandergezogen. Dr . Parkers Stimme wird

Weitere Kostenlose Bücher