Wintermädchen
der Tagesdecke. »Melissa und ich werden dich nach der Einnahme eine Stunde lang im Auge behalten, um sicherzugehen, dass die Medikamente auch wirklich in deinen Körper gelangen. Und wir werden messen, wie viel du trinkst, und wie viel du wieder ausscheidest.«
»Ihr wollt meine Pisse messen?«
»Das ist die beste Methode, um sicherzustellen, dass du nicht dehydrierst. Unten im Bad ist ein Plastikbehälter für den Urin.«
»Das ist doch lächerlich. So krank bin ich nicht.«
»Deine Unfähigkeit zu einer sachlichen Einschätzung deiner Situation ist die Folge der Unterernährung und eines gestörten Hirnstoffwechsels.«
»Ich hasse es, wenn du wie ein Fachbuch redest.«
Sie beugt sich vor. »Und ich hasse es, wenn du dich zu Tode hungerst. Ich hasse es, wenn du deine Haut aufschneidest, und ich hasse es, wenn du uns so wegstößt.«
Der Wind drückt so heftig gegen die Glastüren, dass die Gardinen sich bauschen.
»Ich hasse es auch«, flüstere ich. »Aber ich kann nicht anders.«
»Du willst nur nicht anders.«
Der verletzende Tonfall ihrer Stimme erschreckt uns beide.
Sie steht wieder auf, greift hastig nach ihrer afghanischen Tagesdecke und muss dabei heftig schniefen, um ihre Tränen herunterzuschlucken. Zuerst denke ich, dass sie wegwill, die Decke vielleicht in den Schrank oder in die Waschmaschine legen will. Aber sie tut es nicht. Sie legt die Decke über die Heizdecke, unter der ich kauere, zieht sie mir fest um Schultern und Hüften.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Das war gemein.«
»Es war ehrlich«, erwidere ich. Das Gewicht der Decken fühlt sich herrlich an. »Dr . Parker würde das befürworten.«
Einen Moment lang setzt der Wind aus. Das Haus ist still, wartet darauf, dass ich ihr alles erzähle.
Ich könnte es versuchen. Vielleicht nicht alles. Vielleicht nur die Schimpfwörter,
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
die auf mich einhämmern, wenn ich daran denke, einen Zimtbagel zu essen oder eine Schüssel Blaubeerpops. Und dann diese Sache, zwischen den Welten gefangen zu sein ohne Kompass oder Karte.
Sie streichelt mir mit dem Handrücken über die Wange und beugt sich vor, küsst mich jedoch nicht. Dann schnuppert sie ein-, zwei-, dreimal an meinem Kopf.
»Was tust du denn da?«, frage ich.
Sie setzt sich neben mich. »An der Uni haben wir damals eine Studie darüber gelesen, dass Mütter ihre Babys einen Tag nach ihrer Geburt am Geruch erkennen können. Ich hielt das für Blödsinn.«
»Und stimmt es?«
»Ich hab dich nach wenigen Stunden am Geruch erkannt. Er hat mich beruhigt, fast wie eine Droge. Ich liebte den Geruch meiner Tochter. Als du ein Baby warst, habe ich dauernd an deinem Kopf geschnuppert.«
»Mom, das ist verrückt. Und wenn ich es schon für verrückt halte, hast du wirklich ein Problem.«
»Ich habe nach deinem Auszug monatelang auf deinem Kopfkissen geschlafen und mir eingeredet, ich könnte dich noch immer riechen. Blöd, was?«
Ich schlucke heftig. »Eigentlich nicht.«
»Ich bin fast gestorben, als du weggingst.«
»Ich musste.«
»Ich weiß.« Sie blickt auf ihre magischen Hände herunter. »Mein einziges Kind verhungerte, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe mich gefragt, was für eine Mutter ich bin. Ich war fix und fertig.« Sie holt tief Luft. »Ich wollte dich bei mir haben, aber du wolltest nicht hier sein. Ich wollte dich von Cassie fernhalten, weil sie sich in Probleme hineinmanövrierte. Du warst so entschlossen, zu ihr zu stehen. Cindy hat mir damals erzählt, dass Cassie eure Freundschaft beendet hat. Ich war so froh, dass ich vor Glück fast auf der Straße getanzt hätt e …«
»Rieche ich nach Keksen?«, unterbreche ich sie.
»Wie bitte?«
Ich räuspere mich. »Ob ich nach Keksen rieche? Mein Kopf, meine ich. Nach Ingwer und Gewürznelken und Zucker?«
Ihr Lächeln ist warm und aufrichtig. »Nein, ganz und gar nicht. Ich fand immer, dass du nach Erdbeeren riechst. Ist das auch verrückt?«
Wir wagen beide nicht zu atmen, weil wir uns gerade im selben Raum, in derselben Zeit befinden, Mom und Lia, ohne Handys oder Skalpelle oder Worte wie Flammenwerfer. Keiner von uns will den Zauber zunichtemachen.
Wenn ich ihr jetzt von meiner ganzen Hässlichkeit erzähle, wird diese zarte Brücke unter ihrer Last zusammenbrechen.
»Nein, es ist nicht verrückt«, sage ich. »Es ist süß.«
Zum Abendbrot trinke ich Elektrolytlösung, die so schmeckt, wie Krankenhaustoiletten riechen (= ?
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