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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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hungern müssen oder ohne Behausung sein, solange er bei den Sumpfmännern lebte, das wusste er. Es gab Fische, Muscheln und Krabben in Hülle und Fülle. Die Sprache der Sumpfleute war ihm von klein auf geläufig. Wenn er abends Geschichten erzählte, starrten die älteren Zuhörer versonnen ins Feuer. Sie konnten mit ihm zufrieden sein.
    Peter hatte um jene Zeit begonnen, mit seiner Schwester zu schlafen, wie es bei Sumpfkindern seines Alters üblich war. Nie kam ihnen der Gedanke, dies könnte etwas Schimpfliches sein. Peter wurde schon in früher Jugend mit Anarinda zusammengebracht. Sie war nicht seine leibliche Schwester, und im Übrigen wurde sie auch nicht schwanger. Dazu waren die beiden noch zu jung. Anarindas Schönheit war so groß, dass Peter ganz entzückt von ihr war. Eines Tages fragte er Abysmillard und Auriga Bootes, wie lange er wohl diese Sache treiben könnte, die er erst kürzlich erlernt hatte. Da die beiden sich in derlei Angelegenheiten nicht sonderlich auskannten, verwiesen sie ihn an Humpstone John. »Oh, vier- oder fünfhundert Jahre, nehme ich an«, hatte jener geantwortet. »Es kommt natürlich auf deine Männlichkeit an und auch darauf, was du ein Jahr nennst.«
    Peter, der sich wenig um genaue Begriffsbestimmungen kümmerte, war hocherfreut, denn egal, wie lang ein Jahr war – es war auf jeden Fall eine halbe Ewigkeit! Anarindas nackter Leib und die Dinge, die sie miteinander machten, wenn sie sich in der warmen Hütte auf ihrem Lager vergnügten, waren ein köstlicher Nervenkitzel. Wenn das noch vier oder fünf Jahrhunderte so weiterging …
    Peter wuchs rasch zu einem schmucken Burschen heran. Die Vorstellung, dass sein Dasein vielleicht noch jahrhundertelang in derselben Weise verlaufen würde, machte ihm so viel Freude, dass er vergnügt pfeifend und singend durch die Gegend tänzelte. Seiner Geliebten widmete er kleine Gedichte wie das Folgende:
    Oh, Anarinda, deine Brüste
sind wie Austern rund.
Schenkel hast du
zart wie Flundermund.
Dein Haar ist goldner
als der Ähren Stroh.
Anarinda mein, ich lieb’ dich so!
    Leider hielt dieses Glück nicht einmal annähernd fünf Jahrhunderte, sondern nur ein paar Wochen, denn eines Tages wurde Peter zu Humpstone John gerufen. Der Alte eröffnete ihm, er müsse nun fort. Da er nicht als Sumpfmensch geboren sei, könne er nicht länger bleiben. Zwölf Jahre lang habe man sich seiner angenommen, doch nun sei es an der Zeit, dass er seiner eigenen Wege ginge.
    Ein oder zwei Jahre früher hätte Peter liebend gern die Stadt jenseits der Bucht besucht, genau wie seine gleichaltrigen Kameraden. Damals war er noch so jung, dass er das Sumpfland für den Mittelpunkt der Welt hielt. In seiner kindlichen Unbeschwertheit konnte er sich kaum etwas anderes vorstellen. Doch nun wurde er aus seinem Glück herausgerissen und musste seine Siebensachen packen. Die älteren Sumpfmänner wussten, dass er nur in Manhattan überleben konnte, wenn er schon zuvor etwas von der Bitterkeit des Daseins gekostet hatte. Tatsächlich sollte er in späteren Zeiten immer mit Groll daran zurückdenken, wie sie ihn ausstaffiert hatten, bevor sie ihn in einem Kanu über die Bucht paddeln ließen. Sie setzten ihm nämlich eine Muschelkrone auf, hängten ihm das übliche Männlichkeitssymbol um, ein gefiedertes Halsband, gaben ihm ein gutes Breitschwert, ein neues Netz, einen Beutel voll Dörrfisch und einen Krug Muschelbier. Mit diesen Dingen sei er bestens für die große Stadt gerüstet, sagten sie ihm beim Abschied.
    Peter hatte bis zu jenem Tag nur wenig über Manhattan nachgedacht. Die Stadt war für ihn eine Art Gebirge aus grauem Gestein, das nachts leuchtete. Es betrübte ihn, dass er fort musste, aber in seiner Fantasie malte er sich aus, dass es auch dort drüben stille Wasserarme gab, in denen es von Fischen wimmelte, heimelige Hütten mit Mädchen wie Anarinda und überhaupt ein Leben, das seinem bisherigen Dasein ähnelte.
    Der Frühling war schon fast vorüber, als er sich eines Abends auf den Weg machte.
    *
    Manhattan, hochaufragend, eng und zukunftsträchtig wie die Hauptstädte vergangener Königreiche, brach mit voller Wucht über Peter herein. Er fühlte sich wie in einem riesigen, halbfertigen Palast mit hundert Millionen Gemächern, verzweigten Gärten, künstlichen Seen, Passagen und Promenaden an Flussufern. Dieses gewaltige Bauwerk war auf einer Insel errichtet worden, von der Brücken zu anderen Inseln und zum Festland führten. Einem Angriff wären

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