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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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angekündigt hatte. Peter sprang zurück. Von jenem Augenblick an war er fest entschlossen, sich Geld zu beschaffen.
    Eine Stunde später war er erschöpft wie noch nie in seinem Leben. Die Füße schmerzten ihm, und seine Muskeln waren verkrampft. Sein Kopf kam ihm vor wie ein Kupferkessel, der eine Treppe hinabgepoltert war. In der Stadt schien ein Krieg zu toben. Überall wurden Schlachten ausgefochten, die Straßen wimmelten von Legionen verzweifelter Menschen, die wie Insekten durcheinanderschwirrten. Peter hatte von den Sumpfmännern gelernt, was das Wort Krieg zu bedeuten hatte, aber er war nicht darauf vorbereitet, dass er hier von den Menschen gewissermaßen mit Harnisch und gesenktem Kopf als Dauerzustand ausgetragen wurde. Auf Straßen, die insgesamt zigtausend Meilen lang waren, hatten sich namenlose Heerscharen wahllos ineinander verkrallt. Allein auf dem Broadway gab es zehntausend Prostituierte. Eine halbe Million Lahme und Blinde, eine weitere halbe Million elternloser Kinder fristeten in dieser Stadt ihr Leben. Viele Tausende von Gaunern und Verbrechern schlugen sich seit eh und je mit der Polizei herum. Und die riesige Zahl braver Bürger benahm sich im Alltag wie eine Meute verwilderter, gefräßiger Straßenköter. Mit gesenktem Kopf und zusammengebissenen Zähnen bahnten sie sich ihren Weg. Ein Richter, der das Urteil über einen Missetäter fällte, mochte selbst eine zehnmal strengere Strafe verdient haben und eines Tages vielleicht sogar von einem Amtskollegen verurteilt werden, der noch viel korrupter war als er selbst.
    Peter Lake war überwältigt. Müde schleppte er sich durch das Labyrinth der Straßen. Bisweilen trank er einen Schluck von dem purpurroten Bier und aß ein wenig Dörrfisch. Nirgends eine stille Bucht, eine Hütte, ein weißer, weicher Strand zum Ausruhen!
    Aber Anarindas gab es, so viele Anarindas, dass Peter an seinem eigenen Verstand zweifelte. Wohin er auch blickte, seitlich, nach oben, nach unten – überall schwirrten sie lachend und scheinbar schwerelos herum, sogar in großen, viereckigen Räumen hinter durchsichtigen Glasfronten. Ihre Stimmen waren wie heller Glockenklang oder Vogelsang. Peter beschloss, sich eine Anarinda auszusuchen, damit sie ihn mit zu sich nach Hause nahm. Dort könnten sie zusammen von seinem getrockneten Fisch essen und Muschelbier trinken, bevor sie sich gegenseitig die Kleider vom Körper rissen und auf ein weiches Lager sanken. Welche Anarinda würde ihm widerstehen können mit seiner Muschelkrone, seiner gefiederten Kette und seinem Krug voll Muschelbier?
    Viele Anarindas kamen an Peter vorbei, aber er wollte die beste haben, die in dieser Stadt zu finden war. Schließlich entschied er sich für eine, die in der Tat etwas Besonderes darstellte. Sie war nämlich fast doppelt so groß wie er und hatte ein breites Gesicht von vollendeter Schönheit. Ihr Hals war von einem grauen Pelzkragen umschlossen, an dem ein Smaragd funkelte. Die Göttin war in einen Zobelmantel gehüllt, und der Smaragd war nicht ihr einziges Juwel. Ja, sie war eine wundersame Erscheinung, die sich gerade anschickte, in eine große, glänzend schwarze Kiste zu steigen, welche von zwei stämmigen Pferden gezogen wurde.
    Peter trat auf sie zu und wies mit einer herrischen Geste auf seinen Beutel mit Dörrfisch und auf den Bierkrug. Dann reckte er das Kinn in die Luft und stampfte in jener herausfordernden Art mit den Füßen auf, die bei den Sumpfmännern Paarungsbereitschaft signalisiert. Die Muscheln seiner Krone schlugen klimpernd gegeneinander, die Federn an seiner Halskette tanzten im Luftzug. Schon dachte Peter, seiner Werbung sei Erfolg beschieden, denn die Augen der Frau weiteten sich vor Verblüffung. Doch dann huschte der Ausdruck von Furcht über ihr liebliches Antlitz, wie eine Wolke, die für kurze Zeit den Mond verhüllt. Gleich darauf wurde ihm eine Tür vor der Nase zugeschlagen. Die schwarze Kiste setzte sich in Bewegung.
    Peter führte seinen Paarungstanz noch mehrmals auf, aber sogar die allerschäbigsten Anarindas verschmähten ihn. Erschöpft gab er es schließlich auf. Niedergeschlagen machte er sich auf die Suche nach einer Bleibe für die Nacht. Er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Es gab so viele Straßen in dieser Stadt! Unterwegs blieb er immer wieder stehen und schaute fasziniert zu, wenn der Hund eines Bettlers für ein paar Münzen einen Salto mortale vollführte oder ein in ein langes weißes Gewand gekleideter Mann die

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