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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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auf ihrem Weg zum Meer durchflossen, lief das kleine Schiff an einer langen, weißen Sandbank auf Grund und blieb still liegen. Eine warme Nacht mit hundert Millionen Sternen senkte sich herab, aber das Kind im Inneren des Schiffes gab keinen Laut von sich. Die sanften Wellen der Bucht hatten es in den Schlaf gewiegt.
    Die Sumpfmänner hatten eine kryptische Redensart: »Die Wahrheit ist nicht runder als ein Pferdeauge.« Was immer diese Worte zu bedeuten hatten – sie wurden von einer Generation zur nächsten weitergereicht. Die Sumpfmänner waren Wesen, deren Dasein von der Jagd und der Fischerei bestimmt war. Mit ihren kleinen Booten stakten sie so flink durch die flachen Gewässer zwischen dem Schilf, dass sogar die Fischreiher nicht schneller vorankamen. Hier in dieser Sumpflandschaft waren sie in ihrem Element. Sie bewegten sich mit der Geschicklichkeit von Wesen, die ein Teil dieser Natur waren. Sogar mit dem Wolkenwall konnten sie es an Geschwindigkeit aufnehmen. Nur wenigen Menschen vom Festland war der Anblick einer Gruppe wilder, zerzauster Sumpfmänner vergönnt gewesen, die heulend und kreischend vor dem galoppierenden Wolkenwall flohen. Das war in der Tat ein unvergesslicher Anblick, denn der Wolkenwall war so schnell, dass er bisweilen sogar einen Adler einholte. Die Sumpfleute jedoch entkamen ihm in ihren Kanus. Sie paddelten so schnell und mit solcher Kraft, dass das Wasser schäumte. Ihre haarigen, zerfurchten Gesichter waren dann zu grässlichen Grimassen verzogen, und der Bug ihrer schnittigen Kanus hob sich gefährlich steil aus dem Wasser, als wollten die kleinen Boote abheben. Wenn eine solche Verfolgungsjagd gewonnen war, warfen sich die Sumpfleute jedes Mal ins Wasser, um sich abzukühlen, ähnlich wie ein Schmied, der ein glühend heißes, zischendes Stück Eisen in einen Bottich taucht.
    Vieles an den Sumpfmännern war beachtlich und verdiente Anerkennung, obwohl sie so primitiv, unwissend, gewalttätig und auch schmutzig waren. Aber vielleicht konnten sie nicht anders sein, wenn sie hier in diesem flachen Sumpfland in unmittelbarer Nähe des Wolkenwalles überhaupt ihr Dasein fristen wollten.
    Wenige Stunden, nachdem die City of Justice am Rand der Sandbank liegen geblieben war, machten sich drei Sumpfmänner namens Humpstone John, Abysmillard und Auriga Bootes auf, um in der klaren Nacht fette Rotbarsche zu angeln, die, vom Hudson kommend, immer wieder den Weg durch das Labyrinth der Wasserarme bis in die weite Bucht fanden. Die drei Sumpfmänner vergewisserten sich, dass der Wolkenwall ihnen heute nicht gefährlich werden konnte. Ungefähr zwei Meilen weiter zog er wabernd, heulend, zischend und singend über das flache Land, einem wandernden Wasserfall ähnlich.
    Die drei Männer warfen ihre Netze in das frische Wasser, aus dem hier und dort schon die grünen Spitzen des jungen Schilfrohrs ragten. Wenig später ging die Sonne auf. Der leichte Wind, der zuvor leise rauschend durch das Schilf, über die Sandbänke und das gekräuselte Wasser gestrichen war, schlief ein. Rasch durchlief das frühe Morgenlicht eine ganze Skala von Farben – gold, rot, gelb und weiß. Die drei Fischer vermeinten den Klang von Glocken und den Gesang von Chören aus unvorstellbaren Welten zu vernehmen. Als sich die Woge des Lichts wie weiße Gischt am Saum des Wolkenwalls brach, fühlten die Sumpfmänner die Anwesenheit einer gütigen Macht. Es war wie die Verheißung einer Flutwelle aus schierem Gold, die eines Tages über diese Landschaft rollen und auf den Wolkenwall prallen würde. Die Sumpfmänner hatten davon gehört. Es ging die Rede von einem allmächtigen Glanz, der das Wasser und die ganze Stadt überstrahlen würde, von einem Licht, das so hell wäre, dass es die Bauten aus Stahl und Stein durchscheinen würde.
    Die Netze waren schon mehrmals ausgeworfen und eingeholt worden, als die drei Fischer eine Rast einlegten, um eine Mahlzeit aus Dörrfisch, Rettichen, hartem Brot und Muschelbier zu teilen. Dieses Gebräu der Sumpfmänner war von allen alkoholischen Getränken das anregendste. Je nach Alter und Temperatur änderte sich seine Farbe. Am besten war es, wenn es eine purpurrote Färbung hatte; das bedeutete nämlich, dass es kühl, dickflüssig und nicht zu süß war – ein unbeschreibliches Ambrosia, das Honigwein im Vergleich wie Pferdepisse schmecken ließ.
    Auriga Bootes, dessen Augen wie immer ruhelos das Wasser, den Horizont und den Himmel absuchten, richtete sich plötzlich auf,

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