Wintermaerchen
Passanten zu verfluchen schien. Peter wurde sogar Zeuge, wie zwei Leichenwagen krachend aufeinanderprallten.
Nach drei Stunden – es war inzwischen acht Uhr abends – schien ihm das Sumpfland von Bayonne in der Erinnerung so unwirklich und fern wie eine andere Welt. Peter begriff, dass er in einen langen, prächtigen Traum eingetaucht war. Bunte Szenerien entfalteten sich rings um ihn her, die Stadt brandete gegen ihn an wie die Wellen bei einem Sturm auf hoher See. Fast wurde ihm schwindlig.
Irgendwann gelangte er zu einem kleinen Park, einem weiten, begrünten Platz zwischen hohen Häuserzeilen. Dort herrschte Frieden. Dunkelgrünes, saftiges Gras bedeckte die Erde. Schwarz ragten die Silhouetten der Bäume in den Abendhimmel. Das Licht von Gaslaternen sickerte durch ihr leise raschelndes Laub.
In der Mitte des Platzes tanzten zwei Anarindas! Eine war klein, hatte rotes Haar und trug ein grünes Hemd. Die andere war viel größer und wirkte auch viel aufreizender, obwohl sie nicht älter als Peter zu sein schien. Ihr blondes Haar flog beim Tanzen durch die Luft, ihre Wangen waren gerötet. Sie trug ein enges, cremefarbenes Hemd. Arm in Arm tanzten die beiden Mädchen um einen Brunnen herum. Es war ein alter holländischer Volkstanz. Da sie keinen Musiker hatten, der sie begleiten konnte, summten sie die Melodie. So weit Peter beurteilen konnte, hatten die beiden Anarindas keinen besonderen Grund, hier zu tanzen, außer dass es ein besonders schöner Abend war.
*
Die beiden Mädchen trugen braune, viel zu große Schuhe, die auf dem Straßenpflaster ein hohles Geräusch erzeugten. Ihr Tanz wirkte so behende und fröhlich, dass Peter den Wunsch verspürte, sich ihnen anzuschließen. Nachdem er Beutel, Krug und Schwert ins Gras gelegt hatte, gesellte er sich zu den beiden Mädchen und begann einen hüpfenden Tanz, den die Sumpfmänner in alten Zeiten von Indianern gelernt hatten, ebenso wie die »Muscheltänze« und die seltsamen Reigen, die sich im Wind wiegendes Schilf nachahmten. Peter sprang von einem Fuß auf den anderen, ließ die Hüften kreisen und machte manch andere Verrenkung. Kaum waren die beiden Mädchen durch das Klimpern seiner Muschelkrone auf ihn aufmerksam geworden, als sie ihn in ihre Mitte nahmen und wirbelnd um ihn herumtanzten. Für die Passanten muss das ein gefälliges Spektakel gewesen sein, denn sie griffen in die Tasche und warfen kleine runde, silbrig schimmernde Metallplättchen vor die Füße der drei Tänzer. Das war Geld, wie Peter inzwischen wusste. Es sollte jedoch noch lange dauern, bis er den vollen Umfang dessen begriff, was Geld und die mit ihm verknüpften seltsamen Regeln zu bedeuten hatten. Zuerst fiel ihm auf, wie schwer es ist, an Geld heranzukommen. Dann machte er die Erfahrung, dass es äußerst schwierig ist, Geld zu behalten, nachdem man es so mühsam an sich gebracht hat. Drittens schienen diese Gesetzmäßigkeiten nicht für alle Menschen zu gelten, denn während Geld für manche schwer zu verdienen und noch schwerer zu behalten war, floss es anderen anscheinend in Strömen zu und verblieb auch in ihrem Besitz. Die vierte Regel besagte, dass Geld offenbar mit Vorliebe in sauberen, gepflegten und farbenfrohen Behausungen weilte, in Gesellschaft von feinen Gegenständen und sanftem Licht. Beispielsweise schien eine Menge Geld in stattlichen, hochaufragenden Gebäuden am Rand von Parks und Grünanlagen zu residieren. Diese Beobachtung machte Peter schon an jenem Abend, während er tanzte.
Irgendwie fühlte er, dass er selbst von jener Welt des Geldes ausgeschlossen war, wenngleich es anscheinend Menschen gab, denen sein fremdartiger Tanz ein paar Münzen wert war. Diese Tatsache stellte ihn vor ein neues Rätsel. Warum warf man ihm Münzen zu für etwas, das er liebte, das ihm leichtfiel und das er auch ohne Geld getan hätte? An jenem Abend, als Peter Lake mitten auf einem dunklen, grünen Platz um einen Brunnen tanzte, wurde er zum Dieb. Zwar sollte noch viel Zeit verstreichen, bis er begriff, dass ein Mensch schon dann stiehlt, wenn er sich für etwas bezahlen lässt, das ihm Spaß macht, aber fortan hatte er eine (anfänglich noch unbewusste) Neigung zu Dieben. Das passte übrigens gut, denn die beiden Mädchen gehörten auch zur Zunft.
»Ihr sagt, ihr seid fahrendes Volk«, sagte Peter zu den beiden, als sie sich wenig später die erhitzten Gesichter mit dem Wasser des Brunnens kühlten. »Aber was bedeutet das ?«
»Wo bist denn du her, dass du nicht
Weitere Kostenlose Bücher