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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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die tausend Türme schutzlos ausgeliefert gewesen, zumal alle Welt ungehindert Zutritt hatte. Manhattan war jedoch so groß, dass es nicht erobert, sondern höchstens, auch gegen seinen Willen, besucht werden konnte. Reisende, Einwanderer und sogar die Bewohner selbst waren so verwirrt von der Vielschichtigkeit, Launenhaftigkeit, Eitelkeit, Unmäßigkeit, Größe und Anmut der Stadt, dass sie längst nicht mehr zu sagen wussten, was sie eigentlich darstellte. Gewiss, sie war im Grunde von einfacher Beschaffenheit und bei aller Geschäftigkeit säuberlich gegliedert, reizvoll und gefällig, ein wimmelnder Bienenkorb der Fantasie und das größte Bauwerk aller Zeiten. Das begriff Peter Lake schon, als er in seinem derben, grobgewebten Kittel um fünf Uhr abends an einem Freitag im Mai auf der Bowery stand, die Muschelkrone auf dem Kopf und um den Hals das gefiederte Band. In der einen Hand hielt er den Krug mit purpurnem Muschelbier, in der anderen den öligen Beutel aus Waschbärhaut, der mit Dörrfischwaffeln gefüllt war. Peter war überwältigt, aber er nahm alles begierig in sich auf.
    Die Ereignisse ließen nicht auf sich warten. Zuerst wurde ihm das Kanu gestohlen, kaum dass er an der South Street ein paar Schritte auf dem Pier gemacht hatte. Als er dem Boot nur für einen Augenblick den Rücken zuwandte, kamen ein paar Gestalten aus der Dämmerung zwischen den bemoosten Holzpfählen hervorgehuscht und verschwanden gleich darauf mit dem Kanu, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Wenige Minuten später sah Peter ein Grüppchen junger Burschen mit Holzbündeln unter dem Arm davontraben. Sie hatten sein Kanu kurz und klein geschlagen, um es als Feuerholz zu verkaufen. Zu dem Zeitpunkt, als Peter die Bowery erreichte, brannte es schon in einer Imbiss-Stube unter Kesseln mit Geflügel-, Schweine- und Rindfleisch.
    Manchmal kam es Peter Lake so vor, als ähnelte diese Stadt oder das, was er bisher von ihr gesehen hatte, dem Wolkenwall. Das hektische Treiben, der aus allen Richtungen heranbrandende Lärm und die ungezügelte Lebenskraft trafen ihn wie ein Schlag. Die verschachtelten geometrischen Formen versetzten ihn in eine Art Taumel. Er bestaunte gläserne Fassaden, die in orangefarbenes Licht getaucht waren. Im bleichen Schein der Gaslaternen trotteten pechschwarze Pferde vor firnisglänzenden Kutschen munter durch die Straßen. Eine vielköpfige Menschenmenge strömte nach einer undurchschaubaren Choreografie über breite Treppen, bog um Häuserecken, flutete über Straßenkreuzungen. Die Luft war erfüllt vom dumpfen Dröhnen der Maschinen. Aus der Ferne drang ein andauerndes Brausen zu Peter, das ihn an den Wolkenwall erinnerte, aber es wurde von Dampfmaschinen, Schwungrädern und großen Pressen erzeugt. Die Rufe seltsam kostümierter Straßenhändler erschollen zwischen all den vielen Passanten. In großen Bauwerken – Peter hatte nie zuvor ein »Bauwerk« gesehen – gab es hinter gläsernen Portalen und Fenstern lange Reihen heller Lampen – auch »Lampen« sah Peter zum ersten Mal – und Tische, zwischen denen zahllose schöne Frauen hocherhobenen Hauptes hin- und hereilten. Anders als die Weiber der Sumpfmänner trugen sie Kleider, die an das seidig glatte Gefieder bunter Urwaldvögel erinnerten. Diese Frauen, deren Brüste zumeist runder und voller waren, wirkten im Vergleich zu den Bewohnerinnen der Sümpfe kühl und unnahbar.
    Peter hatte nie zuvor in seinem Dasein Uniformen, Autobusse, Schaufenster, Eisenbahnen und derart riesige Menschenmengen erblickt. Halb betäubt bahnte er sich seinen Weg durch das von grellem Feuerschein übergossene Getümmel des Broadway und der Bowery. Das meiste dessen, was er sah, war ihm unverständlich. Beispielsweise war da ein Mann, der an einer Kurbel drehte und auf diese Weise Musik aus einem Kasten zauberte. Ein Wesen, kleiner als ein Mensch und einem solchen nur entfernt ähnlich, tanzte zu der Musik und sammelte bei den Passanten in einem Hut kleine runde Metallstücke. Peter Lake sprach den Mann an, doch der meinte nur, es wäre ratsam, der tanzenden Kreatur etwas »Geld« zu geben.
    »Was ist Geld ?«, fragte Peter.
    »Geld ist das, was du dem Affen geben musst, damit er dir nicht auf die Füße pinkelt«, erwiderte der Leierkastenmann.
    »Geld ist, was du dem Affen geben musst, damit er dir nicht auf die Füße pinkelt«, wiederholte Peter Lake verständnislos, doch blieb ihm keine Zeit zum Grübeln, denn der Affe tat genau das, was der Leierkastenmann

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