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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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dem Spiel stand, sondern eher, weil er gegen die Allmacht aufbegehrte. Er wurde von Liebe getrieben, und er vertraute darauf, dass sein Versuch, eine Reihe von Toren zu durchschreiten, die nur selten geöffnet worden waren, erfolgreich sein würde. Aber dazu musste er sich konzentrieren.
    Und er konzentrierte sich! Wie Engel, die vom Himmel geschleudert werden, vertrieb er aus dem Kopf alle Gedanken und Wünsche, die nichts mit dem Tisch vor ihm zu tun hatten. Er sah und hörte nichts von den Zuschauern, von seinem Gegner oder von sonst irgendetwas Lebendigem oder Totem jenseits der grünen Filzfläche. Er dachte nicht an Gewinnen oder Verlieren, weder an Drachenfliegers wallendes Haar noch an sein diamantbesetztes Hemd, nicht daran, wie viel Uhr es war und wo er sich befand, und auch nicht an die Art des Risikos, das er einging. Er dachte nur an eines: an die geometrischen Probleme, die sich ihm stellten. Gott war hier und redete in seiner einfachen, absoluten Sprache; er gebrauchte dieselbe Grammatik, mit der er den gleichmäßigen und sanften Tanz der Planeten hatte beginnen lassen. Durch Klarheit und Konzentration würde Hardesty seine vollkommenen Augen dazu bringen, die Entfernungen korrekt einzuschätzen und ihn die richtigen Bewegungen machen zu lassen. Die Kraft seines Willens würde jede Zelle, jede Fiber eines jeden Muskels tun lassen, was ihnen aufgetragen war: dem Queue die nötige Stoßkraft und die korrekte Führung zu geben, damit die Kugel einen Stoß erhielt, der sie ihrerseits zur Dienerin eines höheren Willens machte.
    Sie beobachteten ihn bei seinen Vorbereitungen und fühlten eine Hitze von ihm ausgehen, als brenne in der Mitte des Raumes ein Feuer. Sie sahen, dass er angespannt war wie eine Stahlfeder, und sie ahnten, dass Drachenflieger Schweres bevorstand. Hundertfünfzig Zuschauer drängten sich, um zu sehen, was sich hier abspielte. Viele von ihnen taten etwas, was es zuvor noch in keinem Billardsalon gegeben hatte: Sie standen auf den Tischen! Aber Hardesty hatte nichts im Sinn als reine Physik. Die gleißenden Lampen über dem Tisch leuchteten wie Doppelsonnen, aber außerhalb des Universums aus grünem Filz herrschte tiefe Schwärze.
    Hardesty zwang seine schwitzenden Hände zur Ruhe und brachte das Queue in Position. Mit dem absoluten Gefühl für die exakte Kraft, die die Kugel bis an die Bande treiben würde, stieß er zu. Seine Augen folgten ihr, wie sie geräuschlos auf das andere Ende des Tisches zurollte. Ihr Aufprall auf die Gegenbande traf ihn, als wären vor seinen Augen zwei Schnellzüge zusammengestoßen. Dann kam sie zurück, mit einer verheißungsvollen, gleichmäßigen Verzögerung, die unter den Zuschauern Gemurmel hervorrief. Langsam, ganz langsam rollte sie an Drachenfliegers Kugel vorbei. Fast schien sie sich an die Bande zu schmiegen, dann lag sie still. Beifallsrufe wurden laut. Die Zuschauer waren begeistert. Aber Hardesty hörte es nicht – er bereitete sich schon auf den Eröffnungsstoß vor. Er achtete auch nicht auf Drachenflieger, dessen Gesichtsausdruck darauf hindeutete, dass auch er alles mobilisierte, was ihm zu Gebote stand. Hier wurde um zehntausend Dollar gespielt, aber es stand noch etwas weitaus Wertvolleres auf dem Spiel: die Idee der Gewissheit schlechthin. Der Ecktisch war jetzt von zweihundert Zuschauern umlagert, und schnell wie auf einem Gemüsemarkt wanderten Geldscheine von Hand zu Hand. Hardesty musterte die Anordnung der Kugeln und spürte, dass er dabei war, sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, aber er war ruhig genug, um zu bemerken, dass sich die Wettenden auf den Tischen und Stühlen wie Zuschauer bei einem Hahnenkampf benahmen. Dies wiederum brachte ihn dazu, in dem Dreieck aus bunten Kugeln ein Arrangement frischbemalter Ostereier zu sehen. Weitere Assoziationen würden seine Konzentration gefährden, also bog er sie, statt ihnen zu folgen oder gegen sie anzukämpfen, zu einer gekrümmten Nadel, deren Spitze er wieder auf den Kern der Sache richtete. Dort befanden sich die Planeten, die sich in plötzlicher Unordnung auf einer einzigen Kreisbahn unter zwei Sonnen zusammendrängten. Nun stand er vor der Aufgabe, alles wieder ins Lot zu bringen und die Kugeln, diese Himmelskörper, auf die richtige Bahn zu schicken. Aber wie sollte er dies bewerkstelligen? Die weiße Kugel in unmittelbarer Nähe der Bande zum Stillstand kommen zu lassen war eine Sache – hier aber war die Zahl der Variablen überwältigend. Drachenfliegers in

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