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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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in der Dunkelheit, im Schnee, im weiten Meer der Lichter und in den Dampfwolken, die die Stadt in Winternächten schmücken wie Federn einen Hut.
    Peter wagte nicht, nach Hause in sein Zimmer zu gehen, denn dort würden ihn seine Verfolger sofort entdecken. Er wusste zwar inzwischen, dass sich diese Kerle Short Tails nannten und dass ihre Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, ihn zu jagen, aber er verstand nicht warum und wusste nach wie vor sehr wenig über sich selbst.
    Auf der Suche nach einem neuen Schlupfwinkel für die Nacht – irgendwo musste er schließlich schlafen – stellte er dann hocherfreut fest, dass ihm wieder ein Fragment seiner eigenen, so außerordentlich ereignisreichen Vergangenheit einfiel. Auf dem kürzesten Weg begab er sich zur Grand Central Station.
    Wie immer wimmelte es in der Weite der Halle von Reisenden und Pendlern, aber es herrschte dennoch eine merkwürdige Stille, die dazu einlud, die Augen zu erheben und den gewölbten Himmel zu betrachten. Fast hätte man meinen können, das Gebäude sei konstruiert worden, um das irdische Leben und alle sich aus ihm ergebenden Konsequenzen widerzuspiegeln, z.B. die Art, wie die Menschen ihren Geschäften nachgingen, ohne jemals aufzusehen und ohne sich bewusst zu machen, dass sie auf dem Grund eines unermesslichen Meeres umherdrifteten. Peter Lake sah über sich den Himmel mit all seinen Sternbildern und Planeten-Konstellationen, majestätisch dargestellt auf dem riesigen, tonnenförmigen Deckengewölbe. Dies war einer der wenigen Orte auf der Welt, wo Licht und Dunkelheit wie Wolken unter einem Dach schwebten und aufeinanderprallten.
    Seit Jahrzehnten hatte sich niemand um die Lampen dieses künstlichen Firmaments gekümmert. Der unbeleuchtete Himmel wirkte stürmisch und düster. Vielleicht wusste gar niemand mehr, wie all dies funktionierte und dass die Sterne angeschaltet werden konnten. Peter ging geradewegs zu der kleinen Geheimtür, deren Schloss ihm bekannt vorkam. »Ich weiß, wie man dich aufkriegt«, sagte er und zog eine kleine Ledertasche mit allerfeinstem Werkzeug hervor. Dass er selbst es gewesen war, der dieses Schloss vor fast hundert Jahren angebracht hatte, kam ihm nicht zu Bewusstsein. »Ein altes McCauley No. 6 aus Messing«, sagte er und öffnete es mit einer solchen Geschicklichkeit, dass ihm plötzlich der Gedanke kam, er könnte früher vielleicht einmal Einbrecher gewesen sein. Aber da sich keine weiteren Erinnerungen dieser Art einstellen wollten, verwarf er den Gedanken wieder.
    Als er sich endlich auf der Rückseite des künstlichen Himmels befand, betätigte er einen vertrauten Schalter, und sofort leuchteten alle Sterne auf. Nicht eine einzige Glühbirne war durchgebrannt, keine fehlte. Es war einfach nie jemand da gewesen, um das Licht anzuschalten. In dem Wald aus Stahlträgern und Verstrebungen am Deckengewölbe, unter dem sich die warme Luft staute, hörte Peter die leisen, unaufdringlichen Arbeitsgeräusche weit entfernter Maschinen, welche er früher einmal für das rhythmische Pochen einer Zukunft gehalten hatte, die sich wie ein heraufziehender Schneesturm ankündigte. Sein Bett, das fast hundert Jahre lang nicht benutzt worden war, fand er verstaubt, aber unversehrt vor. Konservendosen, deren Inhalt inzwischen wahrscheinlich tödlicher war als Nervengas, standen ordentlich gestapelt zwischen eisernen Streben. Neben dem Bett lagen ganze Stöße der Police Gazette und alte, vergilbte Zeitungen.
    All dies betrachtete Peter mit Verwunderung. Nach einer Weile ließ er sich zufrieden aufs Bett sinken. Es war Winter, die Sterne funkelten wieder, und er selbst befand sich auf der Rückseite des Himmels in Sicherheit. Unten, auf dem cremefarbenen Marmorboden, glitten die Menschen noch immer, ohne aufzusehen, dahin. Hätten sie hinaufgeschaut, dann wäre ihnen aufgefallen, dass jetzt an einem meergrünen Himmel helle Gestirne funkelten.
    *
    Wie hypnotisiert vor Wut stürzte Hardesty auf die Straße. Er unterschied sich kaum von all den Tausenden, die schon unterwegs waren. In keiner Stadt der Welt war es so einfach, in Rage zu geraten, wie in New York. Man brauchte nur vors Haus zu gehen, und schon war man bereit, mit seinen kurzen Menschenbeinen gegen die Belmont-Ponys anzutreten. Hardesty wusste, dass auf den Hauptstraßen und Avenuen immer Sturmwarnung herrschte. Sein Plan bestand darin, nicht eher Ruhe zu geben, als bis er zufällig auf ein Geheimnis stieß, das die Rettung seiner Tochter ermöglichte. Ohne

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