Wintermaerchen
Stechuhr ergab, dass der erste Angestellte erst um zehn Uhr kommen würde.
Als es sechs Uhr schlug, sprang die Heizung an. Leise Pfeiftöne und der eigenartige, leicht salzige Geruch der Dampfwölkchen, die den Radiatoren entströmten, wetteiferten mit tickenden Heizungsrohren um Hardestys Aufmerksamkeit. Dicht unter der Decke des Raumes, in dem er aufgewacht war, fiel das Licht der aufgehenden Sonne in verschwommenen Bahnen durch eine Reihe überfrorener Fenster, tauchte Kletterseile und Schwebebalken in Weiß und Gelb und erwärmte Hanf und Holz. Hardesty beobachtete die Sonne auf ihrer Bahn. Die Erschöpfung ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen.
Noch vor ein paar Tagen hätte er an einem Ort wie diesem versucht, einen Kreuzhang an den Ringen auszuführen oder schwerelos am Reck zu schweben, um zu erfahren, was es über solche Dinge zu erfahren gab. Jetzt aber bereitete es ihm schon Schwierigkeiten, nur den Kopf zu heben, um die Sonne in den Fenstern hoch oben in der byzantinischen Kuppel zu betrachten.
Das klare Morgenlicht war bereits vom Fenster so gebrochen worden, dass es eine vollkommen runde Plattform schuf, die den schimmernden Schlussstein des Domes bildete. Hardesty erhob sich. Das im Zentrum der Kuppel befestigte Kletterseil schien plötzlich zur ersten Ebene des Himmels zu führen, und das Seil glänzte wie ein dicker goldener Zopf.
Die goldene Scheibe, einhundert Fuß über ihm, hatte sich verfestigt und wirkte massiv. Dort wollte Hardesty hin. Aber er konnte kaum stehen, geschweige denn klettern, und seine Handflächen waren zerschnitten, als habe er mit Stahltrossen hantiert. Die Sonne wanderte weiter und füllte die runde Öffnung mit Gold, bis es den Anschein hatte, als könnte die Kuppel das Gewicht nicht länger tragen. Hardesty begriff, dass es so, wie es gegeben wurde, auch wieder genommen werden würde. Er begann zu klettern.
Jetzt, beim Klettern, durchlitt er die vielfältigen Todesqualen, die er gesucht hatte, und je weiter er sich an dem goldenen Seil nach oben hangelte, desto weiter schwang er sich auch innerlich empor. Das Tau färbte sich rot vom Blut, das seinen Händen entströmte wie Wasser einer geborstenen Leitung. Hardesty aber kletterte unermüdlich weiter, denn er dachte, dass er, wenn er erst die Plattform aus goldenem Licht erreicht hätte, weder Blut noch Kraft brauchen würde. Das Fleisch seiner Handflächen scheuerte sich ab, und die Hanffasern wurden so schlüpfrig, dass er sich mit den bloßen Knochen daran festklammern musste. Aus Qual und Verzückung entstand eine Vision: Ausgebleichte Knochenhände wiesen ihm den Weg und zogen ihn empor. Auf halber Höhe wurden seine Hände zu mechanischen Greifwerkzeugen, die ein Eigenleben besaßen. Das Gewicht, das er hochziehen musste, schien größer und größer zu werden. Was für Fische mögen in diesem Netz sein, fragte er sich, dass es so bleischwer und unnachgiebig ist?
Dicht unter der goldenen Scheibe züngelten kleine weiche Flammen in einer samtigen Spirale um das Seil. Hardesty schob seine linke Hand hinein. Die Flammen waren heiß, aber sie versengten ihn nicht, und während er in sie hineinkletterte, begannen seine wunden Hände zu heilen, und das Blut in seinen Kleidern verschwand.
Die Plattform über ihm war so hell, dass seine Augen den Anblick fast nicht ertragen konnten. Auf den Fenstern leuchteten silbrige und weiße Eisblumen, in denen er unendlich viele genau und fein gezeichnete Bilder erblickte. Flügelähnliche Zacken schienen wie Schwärme von schwarzen Engeln in die Sonne zu fliegen. Tief im Dickicht der federzarten Zeichnungen gab es leuchtende Landschaften, und auf jedem Fenster führten die Muster im Eis den Blick des Betrachters in immer neue Welten. Je mehr Tiefe die Bilder durch lange, auf den Fluchtpunkt gerichtete Tunnel erhielten, desto weiter schienen sie sich zu öffnen und immerwährende Schlachten darzustellen. Himmlische Mächte kämpften über brennenden Gefilden, und runde Sonnen, die in feinen Tröpfchen goldenes Licht verströmten, jagten durch ein Meer von blauen Wellen. Das Sonnenlicht zog seine Bahn durch den Wald feiner Linien, der das Glas bedeckte, und schnitt sie zu Bündeln, die wie Weizengarben wogten.
Hardesty Marratta versuchte, seinen Kopf durch die goldene Scheibe zu stecken. Sofort wurde er zurückgestoßen. Er schloss seine Hände fester um das Seil und zog sich mit verzweifelter Kraft empor, aber eine unerbittliche Gewalt wehrte ihn ab. In einem letzten Versuch,
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