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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Phalanx von fünfzig oder mehr Pferden – Stuten und Hengste, Fohlen beiderlei Geschlechts, graue, braune, schwarze, gefleckte Ponys, rote Shetlands, Percherons mit Mähnen über den Hufen wie afrikanische Tänzer, Araber, Schlachtrosse, Vollblüter und Karrengäule. Als Peter Lake genauer hinsah, entdeckte er, dass es sie wirklich gab. Sie waren nicht nur Bilder, sondern bestanden aus Fleisch und Blut und hatten sich Athansor während der Jagd durch die Straßen angeschlossen. Aus ihren Verstecken auf Trümmergrundstücken herausgelockt, hatten sie sich zusammengeschart und folgten jetzt Athansor in der gleichen lockeren Gangart nach.
    Sobald es hell genug war, um schon aus einiger Entfernung einzelne Gestalten erkennen zu können, sah Peter Lake eine Anzahl Short Tails mit vor Staunen weit aufgesperrten Mündern. An der Spitze der Prozession donnerte er an ihnen vorbei. Das war ganz nach seinem Geschmack. Schon bald würden sie durchschauen, welchen Plan er verfolgte. Sie würden Pearly benachrichtigen und ihm erzählen, dass Athansor sich vervielfacht hatte und nun in fünfzigfacher, genau synchronisierter Ausführung durch die Straßen galoppierte.
    Als Peter und Athansor das letzte Mal über den Nordteil der Insel kamen, schickten sie die fünfzig Pferde in den Fluss und sahen zu, wie sie nach Kingsbridge schwammen und am Ufer das Weite suchten. Jetzt gab es nur noch ein Pferd in Manhattan.
    Bald würde die Sonne aufgehen. Im Galopp ritt Peter bis zur Südseite des Parks. Da es kaum mehr irgendwelche Orientierungspunkte gab, wusste er nicht mehr genau, wo er sich befand.
    Peter stieg ab. Pferde kann man nicht so einfach umarmen – sie sind zu groß. Also blickte Peter Lake Athansor nur in die Augen. »Ich denke«, sagte er, »du weißt, wohin es geht.« Der Hengst nieste. »Du willst dort oben doch wohl nicht mit einer Erkältung ankommen?«, fragte Peter ihn. »Auf jenen Weidegründen wird man sich kaum um so etwas kümmern. Aber möglicherweise gibt es dort eine Quarantänestation. Vielleicht bin ich deshalb nicht hineingekommen. Für dich ist jedenfalls jetzt der Augenblick gekommen, das zu tun, was du damals so gut konntest und meinetwegen so lange nicht getan hast. Los jetzt! Ich werde nicht bei dir sein, du musst es alleine schaffen.«
    Der Hengst rührte sich erst, als Peter Lake mit der Zunge schnalzte und ihm mit der Hand einen Wink gab. Da wieherte Athansor und begann zu laufen. Schon bald ergriff die Bewegung völlig von ihm Besitz, und er fing an zu galoppieren, schneller und schneller, bis der Boden unter ihm erbebte und er weit fort war von Peter Lake, den große Traurigkeit überkam. Nie würde er den weißen Hengst wiedersehen, doch er zweifelte keinen Augenblick, dass das Pferd zu seinem angestammten Platz zurückfinden würde – nach Hause.
    *
    Athansor drückte sich so kraftvoll vom Boden ab, als wolle er in die Luft steigen. Er landete zwar jedes Mal wieder, nachdem er zehn oder fünfzehn Fuß weit geschwebt war, aber das entmutigte ihn kaum. Er versuchte es noch einmal – ganz wie ein Mensch, der vorübergehend aus einem Traum erwacht, in dem er fliegen konnte, und wieder friedlich in dem Bewusstsein einschläft, dass er erneut fliegen können wird. Athansor fand eine lange Avenue, frei von Schutt, und begann zu laufen. Am Anfang war es nur ein leichter Galopp, denn er hielt sich noch zurück. Doch dann begann er wirklich zu galoppieren. Die Luft pfiff an seinen zurückgelegten Ohren vorbei. Seine Hufe schienen den Boden so leicht und selten zu berühren wie eine Hand, die scheinbar mühelos ein Töpferrad antreibt. Sicher musste er bei seiner jetzigen Geschwindigkeit nur noch die Vorderläufe heben, den Nacken steif machen und seinen Kopf himmelwärts recken, wie er es früher immer getan hatte, und schon würde er sich in einer kraftvollen Aufwärtskurve in die Luft erheben. Er machte einen letzten riesigen Satz und verscheuchte tapfer den letzten Rest von Zweifel. Doch aller Mut war umsonst. Krachend landete er auf dem Pflaster. Er verlor das Gleichgewicht, schlug ein paar Purzelbäume und polterte gegen eine Reihe Mülltonnen, die eine einsame Barriere bildeten. Der fürchterliche Lärm schockte ihn allerdings nur halb so sehr wie die simple Tatsache, dass er plötzlich an diese Erde gebunden schien.
    Gedemütigt zog er sich in den Park zurück. Allein auf einem freien Feld, beugte er sich nieder und steckte seinen Kopf so tief zwischen die Vorderläufe, dass er wie ein kompaktes

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