Wintermaerchen
braucht.«
»Nun gut. Schicken Sie mir Ihre Rechnung.«
»Eine Rechnung? Wofür?«
»Dafür, dass Sie an einem solchen Abend zu uns gekommen sind.«
»Ich weiß nicht, was ich dafür in Rechnung stellen soll.«
»Ihre Augen sind vollständig in Ordnung, sagten Sie?«
»Ja, absolut.«
»Dann berechnen Sie mir den Preis für eine speziell angefertigte Brille.«
In diesem Augenblick wurde zum Abendessen geläutet. Alle Hausbewohner begaben sich ins Esszimmer. Der Optiker verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung und wandte sich zur Tür, um in die kalte Dezembernacht hinauszutreten.
Die Mahlzeiten bei den Penns waren insofern ungewöhnlich, als sie von allen Bewohnern des Hauses, die Bediensteten eingeschlossen, gemeinsam am selben Tisch eingenommen wurden. Isaac Penn war kein Aristokrat. Da er in seiner Jugend auf einem Walfangschiff zur See gefahren war und die Quartiere der einfachen Seeleute kennen gelernt hatte, hielt er nichts von getrennten Messen für Offiziere und Mannschaften. Im Übrigen waren die Kinder der Familie Penn – Beverly, Harry, Jack und die dreijährige Willa – stets dazu angehalten worden, ihre Freunde und Freundinnen mitzubringen. »Wenn wir gerade nicht arbeiten, leisten wir uns gegenseitig Gesellschaft«, konstatierte der Hausherr. »Hier wird kein Unterschied gemacht. Alle sind willkommen, die sich vor dem Essen die Hände waschen.«
Während draußen der kalte Wind das Gebüsch im Park zauste und am nächtlichen Firmament die Sterne ihrer wohlbekannten, unabänderlichen Bahn folgten, versammelte sich im großen Speisezimmer des Hauses die ganze Familie zum gemeinsamen Abendessen: der alte Isaac mit seinen Kindern Beverly, Harry, Jack und Willa, deren Freunde, die blonde Bridgett Lavelle, Jamie Absonord und Chester Satin, sowie die Hausangestellten Jayga, Jim, Leonora, Denura und Lionel. Zu Beverlys Verdruss wurden nebenan unterdessen volkstümliche Walzer auf dem Pianola gespielt. Zwar mochte sie diese Musik, doch war sie auf die Vollkommenheit eifersüchtig, mit der ein solches Klavier spielen konnte.
Zu beiden Seiten des langen, recht achtlos gedeckten Esstisches gab es einen Kamin, in dem ein lustiges Feuer brannte. Zwischen funkelnden Kristallgläsern und glänzendem Porzellan standen Platten mit gebratenem Huhn, Schalen mit frischem Salat, Terrinen mit dampfenden Kartoffeln und Soße, Karaffen mit Wasser und Wein, Gewürze und Körbchen mit Zwieback.
Chester Satin hatte öliges, glatt angeklatschtes Haar. Er und Harry Penn wurden von Angst und Schuldgefühlen geplagt, was ihnen durchaus anzusehen war. Sie hatten am Nachmittag die Schule geschwänzt und sich in der Stadt Eintrittskarten gekauft, um eine gewisse Caradelba halb nackt wie eine spanische Zigeunerin tanzen zu sehen. Und da Chester schon immer ein freches, verdorbenes Bürschchen gewesen war, hatte er sogar einen Stapel pornografischer Postkarten erstanden. Letztere befanden sich inzwischen in einem Versteck unter einem losen Dielenbrett in Harry Penns Bude, genau über dem Esszimmer. Nun saßen Harry und Chester bei Tisch und hatten irgendwie das sichere Gefühl, dass gleich ein Stück Gips aus der Decke herausbrechen würde und die anstößigen Bilder herabgesegelt kämen, zur ewigen Schande der beiden Missetäter. Trotzdem mussten sie ständig an die lasziven Abbildungen von Frauen denken, die in verschiedenen Stadien der Entblätterung dargestellt waren. Die Träger der leichten Gewänder waren neckisch über die Schultern gerutscht, die Röcke kess gelüpft, sodass die Beine bis zu den Knien zu sehen waren! Hälse und Nacken waren entblößt, die Arme bis zu den Ellbogen nackt, und auf einem Bild war deutlich der Brustansatz zu erkennen! Diese ehrlosen Weiber hatten das Maß des Anstands in sträflicher Weise überschritten, obwohl sie genügend Unterwäsche trugen, um einen Eisbären bei dreißig Grad unter null zum Schwitzen zu bringen. Gewiss würden sie es sich auch nicht nehmen lassen, die beiden Knaben bloßzustellen, indem sie ihr Versteck verließen und von der Zimmerdecke herab in Isaac Penns ausgestreckte Hände fielen. So kam es, dass sich Harry und Chester während des Abendessens wie Verbrecher benahmen, über denen schon das Fallbeil schwebt.
Jack machte unterdessen seine Hausaufgaben. Das war erlaubt, denn jedes Kind durfte bei Tisch lesen. Die blonde Bridgett Lavelle ließ Jack, der übrigens Ingenieur werden wollte, nicht aus den Augen. Jamie Absonord stopfte sich mit Brathähnchen
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