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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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wanderte ihr Blick über die Milchstraße, und ihre Lippen beteten lautlos wie die eines lesenden Kindes all die Namen der Gestirne und Sternbilder herunter. Beverly zögerte nur, wenn eine Woge warmer Luft aus einem nahen Kamin herbeigeströmt kam und für kurze Zeit die Himmelskörper in wabernde Bewegung zu versetzen schien. Ohne solche Störungen vermochte sie die vielen Namen in einem fast hypnotischen Singsang herzusagen, als riefe sie in dieser Dezembernacht durch die wogende, dunkle Lufthülle hindurch jeden einzelnen Stern an: Columba, Lepus, Canis maior, Canis Minor, Procyon, Beteigeuze, Rigel, Orion, Taurus, Aldebaran, Gemini, Pollux, Castor, Auriga, Capella, die Plejaden, Perseus, Cassiopeia, Ursa maior, Ursa minor, Polaris, Draco, Cepheus, Vega, das Kreuz des Nordens, Cygnus, Deneb, Delphinus, Andromeda, Triangulum, Aries, Cetus, Pisces, Aquarius, Pegasus, Fomalhaut. Ihr Blick schwenkte zu Rigel und Beteigeuze zurück, um sodann flink einige Male zwischen Aldebaran, Rigel und den Plejaden hin- und herzuwandern. Im Bruchteil einer Sekunde wurden Lichtjahre überbrückt, als wäre Geschwindigkeit nur eine Frage der Perspektive.
    Beverly fühlte sich den Sternen des Himmels so innig verbunden, als hätte sie sich einst selbst in ihrer Mitte befunden oder als wäre es ihr bestimmt, eines Tages unter ihnen zu weilen. Wie kam es, dass bei Vorträgen im Planetarium die an die Innenseite der Kuppel projizierten Lichtbilder nicht nur ihr, sondern allen Betrachtern so vertraut zu sein schienen? Sogar Bauern und Kinder verstanden augenblicklich die scharfen und zugleich abstrakten Bilder, verstanden sie mit dem Herzen. Die aus unzähligen Galaxien bestehenden Nebel und die wirbelnden Sternenhaufen, mittels elektrisch erzeugten Lichtes auf die glatte weiße Gipskuppel des Planetariums projiziert, hatten sogar einige der letzten Paumanuk-Indianer auf ihrer traurigen Reise in die Vergessenheit innehalten lassen und in einen solchen Trancezustand versetzt, dass der Vortragende auf alle Erläuterungen hätte verzichten können. Und wie war es zu erklären, dass gewisse Klänge, Frequenzen und sich wiederholende rhythmische Strukturen das Bild von Gestirnen, schwebenden Galaxien und in matten Farben prangenden, gehorsam auf elliptischen Umlaufbahnen kreisenden Planeten heraufbeschworen? Warum waren gewisse Werke der Musik, prä- oder postgalileisch – was machte das schon –, in Harmonie und Rhythmus mit den Sternen verknüpft und suggerierten auf die Erde hinabregnende, sich vor dem Aufprall scheinbar spreizende Lichtgarben, deren Strahlen in Wirklichkeit parallel zueinander verliefen?
    Beverly wusste keine Antwort auf diese und Hunderte von ähnlichen Fragen. Da sie die Schule vorzeitig hatte verlassen müssen und ohnehin wenig in den Naturwissenschaften gelernt hatte (Mädchen wählten meist andere Fächer als Physik und Chemie), war sie verblüfft, als sie eines Morgens nach dem Erwachen auf ihrem Notizblock lange Gleichungen entdeckte, die sie mit eigener Hand niedergeschrieben zu haben schien. Anfänglich hatte sie vermutet, dass Harry ihr einen Streich gespielt hatte, doch die Handschrift erwies sich unbestreitbar als ihre eigene. Insgesamt füllten die Berechnungen mehrere Seiten. Sie ging damit zu dem Mann, der im Planetarium Vorträge hielt. Eine Stunde lang beobachtete sie ihn, wie er im fahlen, nördlichen Licht, das durch die Fenster ins Zimmer strömte, an seinem Schreibpult saß und ihre eigenen Formeln abschrieb. Am Ende meinte er, er würde zwar aus keiner einzelnen dieser Berechnungen schlau, doch weil sie ihm so viel Kopfzerbrechen bereiteten, habe er trotzdem an ihnen Interesse gefunden. Beverly fand, dass ihre Gleichungen in der Handschrift des Mannes viel mehr Autorität zu haben schienen.
    »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte sie.
    »Ich weiß nicht«, erwiderte der Mann. »Aber auf den ersten Blick sieht alles sehr vernünftig aus. Ich möchte diese Aufzeichnungen behalten, wenn Sie nicht dagegen haben. Woher haben Sie sie?«
    »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, erwiderte Beverly.
    »War es tatsächlich Ihr Ernst?«
    »Ja.«
    Er starrte sie an. Wer war sie, diese hübsche junge Frau mit den leicht geröteten Wangen, die in Seide und kostbare Pelze gekleidet war? »Welche Bedeutung haben diese Dinge für Sie?«, erkundigte sich der Mann, der einen bequemen, grauen Anzug mit Weste trug.
    Beverly nahm die Blätter aus ihrem Notizbuch an sich und betrachtete sie nachdenklich. Dann

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