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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Gleich darauf stand eine junge Frau in der Tür. Ihr Gesicht war leicht gerötet, und ihre Augen glänzten vor Freude, als sie die Eisblumen an den Fenstern betrachtete. Ihr Atem ging schwer, wie bei einer Fieberkranken. Auf ihrem lieblichen Gesicht lag der Widerschein sanfter Verzückung. Als sie dort in der offenen Tür stand, vor dem Hintergrund des hell erleuchteten Zimmers, erstrahlte ihr goldenes Haar wie eine Sonne. Mit beiden Händen klammerte sie sich haltsuchend an den Türrahmen und gab mit dieser Geste auch den beiden Männern im Salon zu verstehen, dass sie sie nicht in ihrem Gespräch unterbrechen wollte. Bei aller Wohlerzogenheit, die man ihr sofort anmerkte, war unschwer zu erkennen, dass sich diese junge Frau vor niemand beugen musste. Ihr Kleid erschien dem Optiker reichlich gewagt, denn schließlich war sie ja noch keine richtige Frau, sondern die Tochter des Hauses, ein klavierspielendes Mädchen, das nun in diesem Salon vor seinen Vater trat. Der Spitzenbesatz, ohne den der Ausschnitt des Kleides geradezu skandalös gewesen wäre, hob und senkte sich mit jedem raschen Atemzug über der Brust. Man musste einfach hinsehen. Es ging so schnell, so beängstigend schnell! Der Blick aus den blauen Augen war stetig, aber das Klavierspiel musste die junge Frau so ermüdet haben, dass sie sich nun zitternd an den Türpfosten klammerte.
    Isaac Penn erhob sich geschwind und geleitete seine Tochter wie ein artiger Kavalier zu einem Sessel. »Beverly«, sagte er, »dieser Herr ist gekommen, um dir eine neue Brille anzupassen.«
    *
    Draußen frischte der Wind zu einem jener klirrend kalten Stürme auf, die ungehindert aus der Richtung des Nordpols über die weißen, glattgefegten Ebenen herangebraust kamen. In solchen sternklaren Winternächten, wenn die Luft nach noch mehr Schnee roch, fragte sich Beverly bisweilen, warum sich die Eisbären niemals lautlos über die silbrig schimmernde Eisdecke des zugefrorenen Flusses bis in die Nähe des Hauses vorwagten. Die von der Winterkälte steifen Bäume beugten sich knarrend vor dem Sturm, ihre Zweige klopften und kratzten an den Wänden des Hauses, als begehrten sie in ihrer Verzweiflung Einlass. Wäre in der Eisdecke des Hudson eine schmale Fahrrinne freigehalten worden, sinnierte Beverly, dann hätte irgendein tapferes kleines Schiff fast fliegend vor dem Wintersturm nach Süden fliehen können. Wie seltsam schön wäre es auch, wenn der Erdball unversehens aus seiner Umlaufbahn geschleudert würde, hinein in die kalten Schlünde des Alls, wo die Sonne inmitten der schwarzen Unendlichkeit einer immerwährenden Nacht nur eine schwach leuchtende, ferne Scheibe wäre, weniger hell als die Mondsichel. Stellt euch nur vor, welche Geschäftigkeit die Menschen entwickeln müssten, um Wärme und Licht zu erzeugen! Jeder einzelne Baum, jeder Brocken Kohle und jedes Stückchen Holz müssten verfeuert werden! Die Meere wären schon bald erforen, aber Männer mit Eisenstangen würden in der Finsternis Löcher in das Eis schlagen, um nach leblosen Fischen zu suchen. Irgendwann wäre alles Getier verzehrt, alle Felle und Häute verarbeitet, die Wolle gesponnen und zu Tuch gewebt. Auch Kohle gäbe es nicht mehr, und alle Bäume wären gefällt. Ewige Stille würde sich über die Welt legen, denn sogar der Wind käme schließlich zur Ruhe. Die Seen und Meere wären zu riesigen durchscheinenden Glasbrocken erstarrt. In Felle und Daunendecken gehüllt würden die Menschen still vor sich hinsterben.
    »Ihr Pferd wird erfrieren, wenn Sie es noch lange dort draußen lassen«, sagte Beverly zu dem Optiker.
    »Ja, ich bin froh, dass Sie mich daran erinnern«, erwiderte der Mann. »Ich muss sofort etwas unternehmen.«
    »Wir haben einen Stall«, meinte das Mädchen leichthin.
    »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie mit Ihrem eigenen Gespann gekommen sind!«, schalt der alte Penn und ging sofort zur Tür, um das Pferd persönlich zu versorgen.
    Beverly blieb mit dem Optiker allein zurück. Ihr lag nichts daran, den Mann einzuschüchtern, ja es war ihr sogar unangenehm, dass er vor ihr Angst zu haben schien. »Kommen Sie, fangen wir an!«, forderte sie ihn deshalb auf. »Ich bin müde.«
    »Ich möchte lieber warten, bis Ihr Vater zurück ist«, sagte er, denn er brachte es nicht über sich, ganz nah an sie heranzutreten. Nicht, dass er sich vor ihrer Krankheit fürchtete – nein, er empfand es irgendwie als ungehörig, die körperliche Nähe einer jungen Frau zu spüren, die von

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