Wintermaerchen
voll, als bestünde ihre Lebensaufgabe darin, sämtliches Geflügel dieser Erde zu vertilgen. Auch Beverly schien einen Bärenhunger zu haben. Sie war schlank, denn ihr Körper verbrannte alle Speisen schneller als die Flammen im Kamin ein Holzscheit verzehrten. Mit verblüffender Geschwindigkeit verwandelten sich die gebratenen Hühnchen in ein Häufchen schneeweißer Knochen. Auch die Kartoffeln wurden verputzt, und die Weinkaraffen leerten sich wie durch Zauberei. Schließlich verschwand auch noch der Inhalt der Obstschalen und das Gebäck. Die ganze Zeit über spielte nebenan das Pianola beschwingte Walzermelodien. Irgendwann verklemmte sich die Walze. Beverly stand auf, um die kleine Panne zu beheben. Als sie zurückkam, sah sie, dass ihr Vater einen kleinen Stapel Postkarten in der Hand hielt und mit strengem Blick darauf hinabschaute. Die beiden Knaben saßen vornübergebeugt am Tisch. Sie hatten die Hände vors Gesicht geschlagen und stöhnten kläglich. In der Zimmerdecke klaffte ein großes Loch.
»Hübsche Frauenzimmer sind das«, sagte Isaac Penn zu Beverly. »Aber keine von ihnen kann eurer Mutter das Wasser reichen.«
Bevor Beverly an jenem Abend zu Bett ging, stellte sie sich splitternackt vor einen großen Spiegel. Sie war schöner als alle Frauen, die auf Harrys Postkarten abgebildet waren – viel schöner. Am liebsten wäre sie auch bei Mouquin’s als Tänzerin aufgetreten. Mit geschmeidigen Bewegungen hätte sie sich ganz dem Rhythmus der Musik hingegeben und ihren schönen Körper voll zur Geltung gebracht. Beverly sehnte sich danach, dass ein Mann sie entkleidete und umarmte. Auf einem imaginären Marmorboden machte sie zu den Klängen einer Musik, die nur in ihrem Kopf existierte, ein paar schnelle Pirouetten. Und da sie keinen Mann hatte, der sie umarmen konnte, umarmte sie sich selbst. Dann zog sie ihr Nachthemd an, um schlafen zu gehen. Damit kehrte sie in die nüchterne Wirklichkeit zurück, denn sie schlief auf einer Art Plattform oben auf dem Dach, wo es grimmig kalt war. Doch trotz oder gerade wegen der Eiseskälte erblickte das Mädchen von seiner Schlafstatt aus Dinge, die von anderen Menschen gewiss als Träumereien, Wunschbilder oder Vorspiegelungen bezeichnet worden wären.
Für Beverly kam ein wärmendes Feuer oder die Enge eines Raumes einem Todesurteil gleich. Wenn sie nicht den Windhauch frischer Luft auf ihrem Gesicht spürte, glaubte sie ersticken zu müssen. Die vom Arzt verordnete Lebensweise, die eigenen Neigungen und die letzte Hoffnung auf eine eventuelle Heilung von der Krankheit liefen auf eines hinaus: Beverly musste sich möglichst viel im Freien aufhalten, und das tat sie ausgiebig. Nur drei oder vier Stunden am Tag verbrachte sie damit, zu baden, Klavier zu spielen oder gemeinsam mit der Familie zu essen. Zu allen anderen Tageszeiten war sie in ihrem Zelt auf der Plattform zu finden, die ihr Vater auf dem Dach hatte errichten lassen. Dort schlief Beverly auch nachts. Tagsüber las sie oder beobachtete einfach nur die Stadt, die Wolken, die Vögel, die Boote auf dem Fluss, die Kutschen und Autos tief unten auf den Straßen.
Im Winter war sie meist allein, denn nur wenige Menschen konnten den klirrenden Frost und den scharfen Nordwind aushalten, der die Kleidung wie mit unzähligen spitzen Nadeln durchdrang. Beverly jedoch war nicht nur daran gewöhnt, sondern sie konnte nicht anders leben. Meist waren ihr Gesicht und ihre Hände von der Sonne braun gebrannt, sogar im Januar. Trotz ihrer Krankheit und Zerbrechlichkeit war sie auch bei dem schlechtesten Wetter in ihrem Element wie ein Fischer von den Grand Banks. Dies entbehrte nicht der Ironie, denn während gesunde Besucher schon nach kurzer Zeit zu Eisblöcken zu erstarren drohten, erblühte Beverly wie ein Garten im Frühsommer. Ihre Besucher waren eben nicht so abgehärtet. Auch hatten sie nicht speziell für sie angefertigte Decken, Mäntel und Kapuzen aus feinster Wolle, ganz zu schweigen von gefütterten Handschuhen, Steppdecken und Schlafsäcken aus Daunen und schwarzem Zobelpelz. Beispielsweise war da ein Eskimoparka, innen daunengefüttert und außen aus Zobel – wahrscheinlich die beste Winterkleidung der Welt, leicht und bequem, geschmeidig, wasserdicht und stets mollig warm. Eine Kapuze aus dem gleichen Material umschloss Beverlys Kopf eng wie eine schwarze Sonne, und die blendend weißen Zähne der jungen Frau bildeten dazu einen scharfen Kontrast. Jedes Mal, wenn Beverly lächelte, war es so, als
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