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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Bug einer fahrenden Lokomotive, aus der Dunkelheit auftauchte, machten sie ein paar Patzer.
    »Mal sehen, ob du auch springen kannst!«, sagte Peter und schloss die Augen. Der Hengst sprang nicht nur – nein, er flog geradezu über das Orchester hinweg und landete fast geräuschlos auf der Bühne neben der spanischen Zigeunerin, zwanzig Fuß weiter und acht Fuß höher. Peter war verblüfft, dass dieses Pferd so weit springen konnte und dabei so sanft aufsetzte. Doch das Mädchen war sprachlos. Die Kleine war fast noch ein Kind, aber ihr Gesicht und ihr schmächtiger Körper waren mit einem Pfund Schminke bedeckt. Wenn sie nicht tanzte, wirkte sie ängstlich und verwirrt. Das plötzliche Erscheinen eines Berittenen auf ihrer Bühne wertete sie als eine schlimme Kränkung. Ob sich dieser Mann auf seinem riesigen Hengst wohl über sie lustig machen wollte? Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen. Übrigens fühlte sich auch der Hengst nicht ganz wohl in seiner Haut. Nie zuvor in seinem Leben hatte er ein Theater betreten, von einer Bühne ganz zu schweigen. Das blendende Scheinwerferlicht, die Musik, der süßliche Duft von Caradelbas Schminke und der wallende blaue Vorhang – all dies entzückte und verunsicherte ihn gleichermaßen. Er warf sich in die Brust wie ein Paradepferd.
    Peter Lake brachte es nicht über sich, Caradelba ungetröstet stehen zu lassen. Unten im Orchestergraben balgten sich die Polizisten mit den erbosten Musikern, die sich den Uniformierten in den Weg gestellt hatten. Der Hengst, von der Magie des Rampenlichts verzaubert, versuchte unterdessen sein Glück als Schauspieler, indem er das Gesicht nacheinander zu mehreren ausdrucksvollen Grimassen verzog. Peter, der selbst in größter Bedrängnis stets gelassen blieb, stieg ab und trat zu Caradelba, obwohl die ersten Polizisten sich schon anschickten, die Brüstung der Bühne zu überklettern. In seinem irischen Akzent sagte er zu dem Mädchen: »Meine liebe Miss Candelabra, ich möchte Ihnen zum Zeichen meiner Verehrung und der Bewunderung, welche die Menschen dieser großen Stadt für Sie empfinden, diese Polizeimütze als Erinnerung überreichen. Ich habe sie gerade am Madison Square einem kleinen Polizisten von seinem kleinen Kopf gerissen …« Peter wies auf das runde Dutzend Uniformierter, die unten im Saal, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Bühne zu erklimmen, von den Musikern hart bedrängt wurden. »Wie Sie sehen«, fuhr er dann fort, »ist es eine echte Polizeimütze. Doch nun muss ich gehen.« Die kleine Zigeunerin nahm die Schirmmütze, die trotz der nüchternen blauen Farbe irgendwie aufgeblasen wirkte, und setzte sie sich auf den Kopf. Nun wirkten ihre Arme und Schultern in ihrer Nacktheit fast obszön. Nicht nur zum Ergötzen des Publikums, sondern auch zu ihrer eigenen Freude begann sie, zu den Klängen eines arabesken Fandangos zu tanzen.
    Peter Lake lenkte den Hengst in den dämmerigen Hintergrund der weitläufigen Bühne. Durch ein Gewirr von Kulissen, herabbaumelnden Seilen und schmalen Korridoren fanden sie wenig später eine Hintertür, die ins Freie führte. Als sie auf die winterliche Straße hinaustraten, stellten sie erfreut fest, dass das Verkehrschaos in der Zwischenzeit beseitigt worden war. In leichtem Galopp ging es zurück zur Fifth Avenue.
    Die Hüter des Gesetzes hatten sich in jüngster Vergangenheit wenig um Peter Lake kümmern können, denn in der Stadt tobten Bandenkriege. Jeden Morgen sammelte die Polizei Berge von Leichen ein, und zwar durchaus nicht nur unten am Fluss oder in Five Points, sondern auch an ungewöhnlichen Orten wie in Kirchtürmen, Mädcheninternaten oder Gewürzspeichern. Die Ordnungshüter hatten kaum Zeit für gewöhnliche Einbrecher wie Peter Lake. Doch wenn er holterdipolter durch Straßen galoppieren würde, in denen die piekfeinen Leute wohnten, dann, so stellte er sich vor, hätte er die Polizei bald auf den Fersen, sodass sich die Short Tails nicht so leicht an ihn herantrauen würden. Die Sache hatte nur einen Haken: Wenn die Short Tails erst einmal einen Menschen aufs Korn genommen hatten, ließen sie nicht mehr von ihm ab – nie.
    Peter kannte viele Mittel und Wege, um den tödlichen Fallen seiner Verfolger immer wieder zu entgehen. Stets zauberte seine Fantasie den rettenden Einfall herbei. In dieser winterlichen Stadt gab es ebenso viele Möglichkeiten zum Überleben – und zum Sterben – wie Straßen, Plätze und Sehenswürdigkeiten. Die Short Tails waren

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