Wintermörder - Roman
Schranktüre aufzuhebeln. Die klassische Arbeitsaufteilung. Während die drei Männer mit roher Gewalt versuchten, an Mateckis Geheimnisse zu kommen, schaute sie Fotos an.
Auf einem war offenbar Matecki mit seiner Tochter abgebildet. Das Kind fütterte Enten an einem Flussufer.
Die Weichsel, dachte sie, in der Jost ertrunken war. Sie hatte ihn nicht gemocht. Ja, vielleicht hatte sie ihn auch verabscheut, verachtet. Sie versuchte zu vergessen, dass sie ihn vor kurzem noch als Parasit und Piranha bezeichnet hatte. Sollte man wirklich über Tote nichts Schlechtes sagen, auch wenn es die Wahrheit war? Jost war ein Egomane gewesen, vermutlich ein Trinker.
Warum hatte er sich auf dieses Spiel eingelassen? Was war in ihm vorgegangen? Es würde sich erst vollständig aufklären, wenn die Ermittlungen abgeschlossen waren. An irgendeinem Punkt war etwas in Jost außer Kontrolle geraten. Myriam hatte den Verdacht, dass er einen eigenen Plan verfolgt hatte. Aus Geltungssucht, aus einem inneren Machtbedürfnis heraus und um sich an ihr zu rächen, wofür auch immer. Gern hätte sie nach Entlastung für ihn gesucht, doch es gelang ihr nicht, obwohl sich das Bild, wie Josts dicker, aufgeschwemmter Körper in der eiskalten Weichsel trieb, sich nicht verdrängen ließ.
Ein lautes Krachen, und die Tür stand offen.
Henri setzte sich auf den Holzstuhl und begann den Inhalt zu untersuchen. Myriam wandte sich wieder den Fotos zu.
Auf dem zweiten Foto war Matecki circa fünfzig Jahre alt. Ein schlanker Mann, nicht besonders groß und eher unscheinbar. Er wirkte nicht wie jemand, der fähig war, eine alte Frau zu ermorden und ein Kind zu entführen. Hatte er tatsächlich etwas damit zu tun? Vielleicht sehnten sie sich einfach nur danach, endlich jemanden gefunden zu haben, der als Täter in Frage kam. Es gab immer noch die Möglichkeit, dass er, ähnlich wie Jost, bei seinen Ermittlungen auf jemanden gestoßen war, der ihn ausgeschaltet hatte. Alles war möglich.
Auf dem dritten Bild stand Matecki, mindestens zehn Jahre jünger, neben einer alten Frau. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Beide hatten dieselbe schmale Gesichtsform. Seine Mutter, vermutete sie. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Beide schauten in die Kamera. Rechts unten im Bilderrahmen steckte die alte Aufnahme eines Mädchens mit Zöpfen.
»Schau her«, hörte sie Henri sagen. Er beugte sich nach unten, und als er wieder zum Vorschein kam, hatte er eine alte schwarze Schreibmaschine in der Hand.
»Ich bin ihm auf den Leim gegangen«, sagte er und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Ich Idiot.«
Sie hätte nie gedacht, dass er so wütend werden konnte. Seine Beherrschung war eher etwas gewesen, was sie verunsicherte, sie aggressiv machte. Wenn man selbst perfekt sein will, dann kam die Perfektion anderer einem Affront und einem persönlichen Angriff gleich. Aber es war so einfach gewesen, Matecki zu vertrauen. Er hatte sich geradezu aufgedrängt.
Sie nahm das Foto in die Hand und zeigte es dem Inspektor.
»Seine Mutter?«
»Sie lebt seit Jahren in einem Pflegeheim«, übersetzte Maj weiter. »Deswegen hat er sich gestern auch abgemeldet. Irgendetwas war mit ihr.«
»Wie alt ist sie?«, fragte Myriam, und etwas in ihrem Kopf schlug Alarm.
»Mitte siebzig.«
Sophia Fuchs wäre jetzt sechsundsiebzig oder siebenundsiebzig. Irgendetwas fügte sich zusammen, rastete in ihrem Kopf ein. Aus einzelnen Fakten wurde eine Geschichte.
Da will jemand eine Geschichte erzählen.
Henri hatte es gesagt, als sie vor Henriette Winklers Leiche gestanden waren.
»Bringen Sie seine Personalakte, wenn es hier so etwas gibt«, befahl Myriam. Ohne daran zu denken, dass dies hier nicht ihr Hoheitsgebiet war. Doch der Inspektor nickte und fügte sich ihren Anordnungen.
Zehn Minuten später legte er den Telefonhörer auf. Maj übersetzte. Matecki hatte seine Mutter vor fünf Tagen ohne Begründung aus dem Altersheim geholt.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Personalakte von Matecki vor ihnen lag.
Leszek Matecki, geboren am 03. 06. 1957 in Krakau.
Vater — Albert Matecki, geboren am 6. 11. 1929, Polizist.
Mutter — Zofia Matecki, geborene Lisowska.
Sie alle schauten sich an. Es war so einfach.
36
Die Siedlung Osiedle Sportowe in Nowa Huta, in der Mateckis Wohnung lag, bot ein Bild der Trostlosigkeit und Armut. Das Arbeiterviertel vor den Toren des Eisenhüttenkombinats im Osten Krakaus mit etwa zweihundertfünfzigtausend Einwohnern war in den fünfziger
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