Wintermörder - Roman
vorbeilief, war öde und trostlos. Die Dörfer, an denen sie vorbeifuhren, machten einen verlassenen Eindruck. Die Dunkelheit wurde nur unterbrochen von den Scheinwerfern anderer Autos, vor allem der großen Trucks, die sich seit Görlitz aneinanderreihten.
»Du solltest schlafen.« Henri warf ihr einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu. Er fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppel, die sich am Kinn zeigten und die Myriam attraktiv fand.
»Ich kann nicht schlafen. Nicht, solange wir Denise nicht gefunden haben. Sie muss doch in irgendeinem Hotel in Krakau abgestiegen sein.«
»Wir werden sie finden.«
»Wie Jost?« Den Sarkasmus in ihrer Stimme konnte Myriam nicht verhindern. Schließlich war gegen siebzehn Uhr gestern Abend eine Leiche aus der Weichsel gezogen worden, die einen deutschen Pass bei sich trug, der auf den Namen Udo Jost ausgestellt war. Mehr wussten sie nicht. Die Kommunikation war schwierig gewesen. Die deutschen Sprachkenntnisse des polnischen Kollegen waren nicht mehr als rudimentär. Auf seine Frage, ob man Matecki holen könne, hatte Henri die Antwort erhalten, dieser sei nicht mehr im Büro.
Anstelle einer Antwort scherte Henri nach links aus, um einen Laster mit russischem Kennzeichen zu überholen. Der Dieselmotor des VW Busses dröhnte bei einer Geschwindigkeit von hundertsechzig Stundenkilometern. Sie beobachtete Henri, doch es war keine Anspannung in seinem Gesicht zu erkennen, sodass sie sich langsam fragte, womit man ihn überhaupt aus der Fassung bringen könnte. Er war ein schwerer Brocken, nicht nur gewichtsmäßig.
Dagegen hatte Josts Tod sie, Myriam, vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht. Ihr war nicht klar, ob es ihr dabei wirklich um Jost ging oder ob nicht einfach die Sorge um Denise und ihren Sohn dieses Gefühl der Lähmung in ihr auslöste. Auf der anderen Seite standen die kribbelnde Nervosität vor dieser Reise und die Frage, was sie in Krakau erwartete? Würden sie Sophia Fuchs dort finden? Wusste diese Magda tatsächlich etwas über sie? Sie hatte sich geweigert, irgendwelche Fragen am Telefon zu beantworten oder zur polnischen Polizei zu gehen.
Laut der Geburtsurkunde war Sophia Fuchs im Februar 1945 gerade einmal sechzehn Jahre alt gewesen.
Henriette Winkler hatte Carl aufgezogen. Hatte sie sich nicht als großzügig erwiesen? Vielleicht war Sophia froh gewesen, dass jemand sich um ihren Sohn kümmerte. Wer wusste schon, was in einer Mutter vor sich ging, die ein Kind geboren hat, das das Ergebnis einer Vergewaltigung war.
Doch das minderte die Schuld nicht. Henriette Winkler hatte toleriert, dass ihr Mann über das Mädchen herfiel, sie vergewaltigte. Hatte Sophia später nach ihrem Sohn gesucht? Hatte sie den Winklers geschrieben, ihnen gedroht? Und Henriette Winkler war hart geblieben? Hatte sie die Bitten und später die Drohungen ignoriert?
Myriam streckte die Beine aus und versuchte sich zu konzentrieren. Die gleichförmigen Geräusche der Autobahn waren einschläfernd. Die flache Landschaft wirkte kalt und abweisend. Sie hatte nichts Einladendes an sich. Myriam kam sich vor wie der Zug, der nachts um vier im Fernsehen durch öde Gegenden raste, ziellos und dennoch stur. Die Wegweiser, Schilder und Reklametafeln sagten ihr nichts. Nur der Rauch, der hier und da aus Kaminen stieg, ließ erkennen, dass dieses Gebiet von Menschen bewohnt war.
Seit einer Woche war sie nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die wenigen Stunden Schlaf der letzten Woche waren mehr eine kurze Bewusstlosigkeit gewesen als eine Erholung. Und nach dem Überfall … sie schob den Gedanken zur Seite und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihr lag.
Sie gingen immer wieder davon aus, dass Sophia Fuchs noch am Leben war, obwohl sie jetzt sechsundsiebzig oder siebenundsiebzig Jahre alt sein musste. Dabei hatte Matecki keine Spur von ihr in Krakau gefunden. Wen hatte Jost getroffen? Myriam war sich jetzt sicher, dass er sein eigenes Spiel gespielt hatte, und konnte nicht verstehen, was in dem Journalisten vorgegangen war.
Nachdem Henri von seinem Tod erfahren hatte, war er in die Redaktion gefahren, um mit Ramona Neuberger und Tobler zu sprechen. Beide hatten den Eindruck gehabt, Jost sei aufgekratzt gewesen, ja geradezu euphorisch. Die Neuberger hatte es auf den Alkohol geschoben. Tobler hatte davon gesprochen, dass er gegen sechzehn Uhr ein Treffen mit einem polnischen Kameramann verabredet hatte, doch Jost war nie eingetroffen. Warum nicht? Wo war er vorher gewesen?
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