Wintermörder - Roman
weitermachen. Meine Fälle stapeln sich in den Kühlfächern, und garantiert wollt ihr den Bericht so schnell wie möglich. Am besten schon gestern.« Er reichte Liebler den zerknitterten Zettel. »Und nehmt das hier mit.«
Kaum hatten sie den Keller verlassen, piepste Lieblers Handy. Während er telefonierte, versuchte Myriam das Bild der alten Frau zu verdrängen. Es gelang ihr nicht. Das Phänomen Tod ließ sich nicht abschütteln.
Phänomen.
Der Tod war kein Ufo, er war keine außerirdische Erscheinung. Er war der größte Betrug aller Zeiten. Es war keine Heldentat zu sterben, sondern im Normalfall lief das Leben einfach aus, wie ein Vertrag, den man irgendwann unterschrieben hat, ohne ihn genau durchzulesen. Ein Vertrag, der ihre Mutter um Jahre betrogen hatte und vielleicht auch sie irgendwann betrügen würde.
Liebler zündete sich eine Zigarette an. Nach wenigen Sekunden roch die kalte Luft nach Rauch. Neid auf die Zigarette in seinen Fingern, Neid auf den Rauch, den er einatmete. Myriam brauchte nur die Hand auszustrecken, um ihrem Leiden ein Ende zu machen. Sie musste sich beherrschen, dass ihre Hand nicht die Packung aus seiner Brusttasche riss.
»Sind wir wirklich weiter, wenn wir endlich wissen, wer auf dem Foto ist? Wenn wir eine Erklärung für das Zitat in Henriette Winklers Hand haben?«, fragte Myriam. »Warum sollte er uns Hinweise geben?«
»Er hat Henriette Winkler beobachtet und war bereits früher in ihrem Haus. Wie kam er sonst an die Kreditkarte? Die alte Dame hatte das Haus seit Wochen nicht verlassen. Die Einkäufe sowie alles andere erledigte die Haushälterin. Frau Hirschbach hat übrigens auch eine Bankvollmacht.«
»Er geht Risiken ein.«
»Wer jemanden tötet und gleich darauf noch jemanden entführt, ist risikobereit«, erwiderte Liebler.
»Er will uns etwas erzählen.«
»Was?«
»Die Geschichte, von der Sie am Tatort gesprochen haben.«
»An deren Anfang Oskar Winkler stand?«
»Genau.«
»Und wir haben keine andere Möglichkeit, als sein Spiel mitzuspielen. Das gefällt mir nicht. Ich lasse mich nur ungern erpressen.«
Sie schwiegen eine Weile. Jeder dachte für sich, dass sie nicht nur den Anfang, sondern auch das Ende kannten. Was ihnen nicht weiterhalf.
Dann hob Liebler die Tüte mit dem Zettel in die Höhe.
»Mit Schreibmaschine geschrieben«, sagte er. »Es gibt da einen gewissen Dr. George.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist seit drei Jahren in Pension, aber er war ein bekannter Spezialist in der Schweiz für forensische Handschriftenuntersuchung, Schriftpsychologie und graphologische Untersuchungen von mit Schreibmaschine geschriebenen Schriftstücken. Er ist genau der Richtige, um etwas über den Verfasser dieser Botschaft herauszufinden und festzustellen, um welchen Schreibmaschinentyp es sich handelt.«
»Das ist ein Beweisstück. Auf dem Papier sind mit Sicherheit Fingerabdrücke, Schweißtropfen, Speichelproben zu finden. Sollen wir ihm etwa den Zettel in die Schweiz bringen?«
»Sie sind der Boss und können ihn als Sachverständigen berufen, indem Sie einen Antrag schreiben, dass George hier in Frankfurt in die Labors der Spurensicherung kann. Er ist in Pension, aber er langweilt sich zu Tode.«
»Ich weiß, wie ich meinen Job zu machen habe.«
»Wissen Sie, was sich das gesamte Polizeipräsidium fragt?«
»Nein. Es interessiert mich auch nicht.«
»Warum Sie nicht gleich zur Polizei gegangen sind.«
»Weil ich der Boss sein will? Das ist es, was Sie denken, oder? Weil ich alles unter Kontrolle haben will.«
Henri Liebler zog an seiner Zigarette und schwieg.
8
Denise Winkler konnte das Läuten des Telefons nicht mehr ertragen und presste beide Hände auf die Ohren. Dennoch hörte sie in der Ferne das unaufhörliche Klingeln.
Sie hatten sie weggeschickt, damit sie sich ausruhte, was ihr so irrsinnig erschien, dass sie den Raum verließ, weil sie das Gerede von starken Nerven nicht mehr ertragen konnte. Wo sollte sie diese so plötzlich hernehmen? Sie hatte keine psychischen Reserven angelegt, um das Verschwinden ihres Sohnes überleben zu können.
Unten im Wohnzimmer durchwühlte ihr Vater unter der Aufsicht von Myriam und Henri Liebler Schubladen auf der Suche nach Bildern, auf denen der zweite Mann abgebildet war. Myriam hatte ihr erklärt, dass es die einzige Spur war, die sie hatten.
Ein Foto? Was für ein Foto?
Und warum hatten sie diese Fragen nach den Chopinbildern gestellt? Ob es Expertisen dazu gab. Weder sie noch ihr Vater
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