Wintermörder - Roman
vermutlich mehr ein symbolischer Akt. Vielleicht sogar ein emotionaler.«
»Sie meinen, er hatte eine persönliche Beziehung zu Henriette Winkler?«
»Wer weiß«, antwortete Veit.
Liebler strich sich mit der Hand durch die Haare. Automatisch griffen seine Hände zur Zigarettenschachtel.
»Du wirst es nicht wagen«, sagte Dr. Veit.
»Nur ein Reflex. Seit meiner Diät … Sonstige Spuren?« Liebler ließ die Schachtel stecken.
»Alles, was du brauchst: Haare, Kleiderfasern, Hautpartikel.« Henning hob den verkrümmten Fuß der alten Frau vorsichtig in die Höhe. Wie etwas Kostbares. Wie eine Reliquie. Denn jeder Überlebende will einen toten Menschen als wertvoll sehen. Keiner endet schließlich gerne als Restmüll.
»Ist der Täter ein Idiot?«, wunderte sich Henri Liebler.»Jeder kennt doch die Tricks. Handschuhe tragen, die Haare unter einer Mütze verstecken, die Kleidung sollte nicht fusseln, und sein Sperma lässt man nicht einfach am Tatort zurück, sondern trägt es ordentlich in einem Kondom nach Hause.«
»Solche Spuren nützen nur, wenn wir Vergleichsdaten haben«, erwiderte Dr. Veit.»Was aber, wenn der Täter ein unbeschriebenes Blatt ist? Wenn er uns mit seinen Spuren provozieren will?«
»Niemand ist ein unbeschriebenes Blatt«, antwortete Liebler.
»Ich meine, wir sollten uns darauf konzentrieren, was der Täter uns sagen will. Er wollte, dass Henriette Winkler erfriert. Ganz langsam.« Myriam wurde trotz der Jacke nur langsam warm. »Er wollte, dass ihr Körper Zelle für Zelle abstirbt. Die beiden hatten irgendwann einmal etwas miteinander zu tun.«
»Übrigens habe ich etwas bei dem Opfer gefunden, was euch mit Sicherheit interessiert«, unterbrach Henning Veit ihre Gedanken. »Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass es euch weiterhilft. Außer, dass ihr davon ausgehen könnt, dass der Täter ein gebildeter Mann ist.«
Dr. Veit ging zum Sideboard und zog eine Schublade auf, aus der er eine Plastiktüte herausnahm.
»Wie ihr wisst, war der Körper steif gefroren«, erklärte er »Die Hände hatte sie in den Stoff des Rockes verkrallt. Ich habe es vermieden, sie noch am Tatort vom Stoff zu lösen. Ich wollte ja nicht, dass sie Knochenbrüche erleidet, die dann auf meine Kappe gehen.«
»Sag schon«, murmelte Henri.
»Eine kriminalistische Untersuchung«, belehrte ihn Henning Veit, »erfordert Geduld.«
»Bei einer Entführung habe ich keine Zeit für Geduld und deine Spielchen. Also was ist es?«
»In ihrer Hand hatte sie diesen Zettel.«
Er hob den Plastikbeutel hoch, in dem sich ein graues Pa-pier in der Größe einer Visitenkarte befand, das mehrfach gefaltet gewesen war.
»Auf diesem Zettel …« Für seine Fähigkeit, das Mysterium des menschlichen Lebens anhand eines toten Körpers zu vermitteln, war Henning Veit vergeblich viel Geld von verschiedenen Fernsehsendern geboten worden. »Auf diesem Zettel hat der Täter euch eine Nachricht hinterlassen.«
Mit Schwung drehte er die Tüte um 180 Grad.
Ein kurzer Text, den Myriam erstaunt zu entziffern versuchte. Was im ersten Moment nicht möglich war. Die Faltlinien des Papiers hatten die Wörter auseinandergerissen. Doch auch auf den zweiten Blick konnte sie ihn nicht verstehen. Sie hatte etwas anderes erwartet.
»Das ist Latein«, sagte Henri. »Und das hatten wir nicht auf der Polizeischule.«
»Bemühe dich nicht«, sagte Dr. Veit. »
Debet quis juri subjacere, ubi deliquit
Man muss sich für das verantworten, wessen man schuldig geworden ist.«
»Kannst du das noch einmal wiederholen?«, fragte Liebler. »Auf meinem lateinischen Ohr bin ich blind.«
»Man muss sich für das verantworten, wessen man schul-dig geworden ist.«
»Schuldig«, wiederholte Liebler, »worin kann eine fünfundachtzigjährige Frau schuldig geworden sein, dass sie diesen qualvollen Tod verdient hat?«
Wenn Veit sich im menschlichen Körper auskannte, so war Myriam die Spezialistin für Recht und Gesetz.
»Ubi
«, erklärte sie, »hat hier lokale Bedeutung, also nicht
wessen
, sondern
wo
!
Debet quis juri subjacere, ubi deliquit
ist wesentlicher Bestandteil unserer Strafprozessordnung, Paragraph 7 StPO Abschnitt 1. Der Gerichtsstand ist bei dem Gericht begründet, in dessen Bezirk die Straftat begangen worden ist.«
»Ist nicht verständlicher als Latein«, kommentierte Liebler.
»Man muss an dem Ort verurteilt werden, an dem man die Tat begangen hat.«
»Könnt ihr das draußen klären?«, fragte Henning Veit. »Ich muss hier
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