Wintermörder - Roman
verzerrt, wie in einem Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt. Die rechte Hand hoch erhoben, sprach sie zu jemandem, der nicht zu sehen war.
Sie erhob sich resigniert. Aus der hintersten Schrankecke zog sie eine Packung Zwieback hervor.
»Und warum sind Sie jetzt wirklich hier?«
»Eine Spur folgt der anderen. Wir haben den grauen Sharan auf dem Rastplatz Kassel gefunden.«
Myriam hielt inne.
»Wann?«
»Heute Morgen gegen sechs Uhr. Es handelt sich um einen Mietwagen.«
»Ein Mietwagen? Das ist gut. Der muss sich zurückverfolgen lassen. Irgendwelche Spuren?«
»Kleiderfasern auf dem Fahrersitz, Haare und Schuppen auf der Nackenstütze, Schweißspuren auf dem Lenkrad. Blonde Haare auf der Rückbank. Wir müssen jetzt noch das Ergebnis der forensischen Analyse abwarten, aber so wie es aussieht, wurde der Junge mit dem Wagen transportiert. Und er hat sich vor Angst in die Hose gemacht. Die Rückbank war voller Urin.«
Myriam spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte, und grub die Zähne in die Unterlippe. Sie konnte den Urin geradezu riechen. Er roch nach Angst, nach Panik.
»Haare und Kleiderfasern sagen nichts darüber, wohin er mit dem Kind verschwunden ist. Er hat den Sharan dort stehen lassen, und dann?«
»Hat er vermutlich den Wagen gewechselt.«
»Was ist mit diesem verdammten Anruf bei Jost? Können Sie das Handy nicht orten?«
»Wir haben es immer wieder probiert. Er muss den Akku herausgenommen haben.«
»Also gut, wer hat den Wagen gemietet?«
»Der Sharan wurde per Telefon gebucht. Was glauben Sie, auf welchen Namen?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Henriette Winkler, und bezahlt wurde mit ihrer goldenen Kreditkarte.«
»Mein Gott.«
»Wir haben die Kreditkarte sperren lassen, aber damit hat der Täter wohl gerechnet. Seit der Entführung hat er sie nicht mehr benutzt.«
Schweigen. Die Küchenuhr tickte. Die Zeit lief zu schnell. Sie war eine Bewegung, die man nicht stoppen konnte. Das war unerträglich.
»Der Täter führt uns im Kreis«, sagte Liebler schließlich. »Damit müssen wir umgehen lernen. Alles ist durchdacht. Er ist ein Dramaturg. Er hat einen genauen Plan. Immer wieder lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf die Familie.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich hatte vor einer halben Stunde einen Anruf.«
Der Adrenalinschub kam schneller, als Myriam denken konnte.
»Der Entführer? Hat er sich gemeldet?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, dafür ein Kriminalbeamter aus Krakau, ein Herr Matecki.«
»Krakau?«
»Krakau liegt in Polen.«
»Ich weiß, wo Krakau liegt.«
»Er hat uns einen Fall von Kunstdiebstahl gemeldet.« Liebler biss laut krachend in den Zwieback.
»Was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Er sagte, es gäbe Hinweise darauf, dass die Bilder sich bei einer gewissen Henriette Winkler hier in Frankfurt befinden.«
»Kunstdiebstahl?«
»Ja, sie stammen aus dem Czartoryjski-Palast. Er ist den Bildern seit Jahren auf der Spur.«
»Die Chopin-Serie!« Myriam verstand.
»Genau.«
Nicht wertvoll
, hatte Denise erklärt.
Mein Großvater hat sie billig auf einer Auktion nach dem Krieg erstanden.
»Haben Sie nach einer Expertise gesucht, einem Herkunftsnachweis?«
»Bis jetzt haben wir nichts gefunden, deshalb dachte ich, ich sollte die Bilder einem Sachverständigen bringen, der sich damit auskennt.«
Myriam war irritiert.
»Wegen Bilder bringt man niemanden um«, sagte sie.
»Es wurden schon Menschen aus geringeren Gründen ermordet.« Er lehnte sich zurück und betrachtete sie mit einem seiner Blicke, die schwer zu interpretieren waren. Verlegen wandte sie sich ab.
»Aber nicht entführt.« Myriam schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Fälle etwas miteinander zu tun haben. Das ist Zufall.«
»In meinem Job glaube ich nicht an Zufälle. Schicksal gibt es in meinem Wortschatz nicht«, sagte Liebler mit Überzeugung.
»Und dieser …«
»Matecki.«
»Wie ist dieser Matecki an die Information gekommen?«
»Er hatte einen Anruf. Anonym.«
»Das Ganze wird immer mysteriöser.«
»Ohne Zweifel.«
Myriam schaltete den Wasserkocher ein. »Ich könnte Ihnen einen Rührkaffee anbieten.«
Henri Liebler nickte. Während der paar Sekunden, die es dauerte, bis das Wasser kochte, gab sie einen Teelöffel Instantkaffee in die eine Tasse, eine Teebeutel in die andere, während er langsam einen Zwieback mit Butter bestrich. Dann goss sie Tee und Kaffee auf und reichte ihm die Tasse.
»Was sagt Hillmer?«, fragte er.
»Die
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