Wintermörder - Roman
war unmöglich. Sie würde die Firma aufs Spiel setzen. Ihr Erbe. Das Erbe ihres Sohnes. Hatte sie das Recht, zweihundert Jahre Familientradition über Bord zu werfen? Sie bekam keine Luft mehr.
Wie konnte ein Kind verschwinden, das morgens fröhlich aus dem Haus gegangen war? Voller Pläne. Den Schal dreimal um seinen Hals gewickelt. Noch immer mit demselben Eifer wie am ersten Schultag. Was sie erschreckte und gleichzeitig zu Tränen rührte.
Zehn Minuten zu früh. Er war zehn Minuten zu früh aus dem Haus gegangen.
»Du hast noch Zeit«, hatte sie gesagt und den Reißverschluss der Jacke bis unter das Kinn gezogen. »Es ist kalt. Warte noch zehn Minuten. Daniel kommt sowieso immer zu spät.«
Aber er hatte nicht warten wollen. Er war gegangen. Und als Daniel zum Treffpunkt kam, war Frederik bereits verschwunden. Er war nicht in der Schule angekommen. Daniel hatte zwar geklingelt, aber sie war bereits weg gewesen.
Warum konnte sie nicht weinen?
Unbarmherzig verweigerte der Körper ihr die Tränen. Er verweigerte ihr das Recht zu weinen.
Woher diese Leere?
Der Tod ihrer Großmutter ließ sie kalt.
In ihrem Innern war es kalt wie in einem Keller.
Wie in dem Keller, in dem ihr Kind jetzt lag?
Sie konnte nichts tun. Nur warten, dass der Entführer ihr Anweisungen gab und Forderungen stellte.
Doch er meldete sich nicht.
Denise drückte ihr Gesicht in das Kopfkissen und wiederholte immer wieder: »Ruf an, ruf an, ruf an!«
Wieder klingelte das Telefon. Verdammt, sie hielt es nicht aus. Sie sprang aus dem Bett und rannte nach unten, riss den Hörer an sich, schrie hinein: »Was wollen Sie? Sagen Sie es mir! Wo ist mein Kind?«
Jemand antwortete.
Eine ruhige Stimme, die ihr etwas erklärte, das sie zuerst nicht verstand. Sie sagte immer nur
ja
. Dann legte sie auf, ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa.
Myriam folgte ihr. »Was ist los?«
»Nichts«, antwortete Denise. »Nichts.«
»Wer war das?«
Denise blickte ihr ins Gesicht. »Kommissar Fischer.«
»Was wollte er?«
»Sie haben nichts gefunden.«
»Wie nichts?«
»Sie haben auch in der Villa keine Fotos mehr gefunden. Sie haben alles durchsucht.«
Denise beobachtete, wie Myriam Liebler einen Blick zuwarf.
Hatten sie ihr alles gesagt oder verschweigen sie etwas?
»Welche Fotos?«, fragte Denise.
Ihr Vater stand daneben, nach vorne gebeugt, als würde er gleich umkippen. Hilflos hob er die Hände. »Einige Alben deiner Großmutter sind verschwunden. Mit Fotos aus der Zeit nach dem Krieg. Aber es sind vor allem Familienfotos, wen sollten die interessieren?«
»Fotos?«, schrie Denise und sprang auf. »Das ist alles? Nur alte Bilder? Deswegen soll jemand meinen Sohn entführt haben? Er ist erst sieben Jahre alt.«
Die Tränen schossen aus ihren Augen.
Sie hob die Hände und trommelte gegen die Brust ihres Vaters. »Du musst es wissen. Sag es mir. Sag es mir.«
Doch Carl Winkler antwortete nur: »Ich habe keine Ahnung«, und hielt die Fäuste aus, die ihn trafen.
»Keine Ahnung?«, wiederholte Denise leise, ließ die Hände sinken. »Keine Ahnung!«
Sie krallte die Finger in die Haare, zog mit aller Kraft daran. Der Schmerz, den sie sich zufügte, würde die Angst und die Verzweiflung in ihrem Innern vertreiben.
»Mein Gott, reiß dich zusammen«, hörten sie plötzlich eine Stimme.
Oliver Winkler stand in der Tür, den Kragen des Winter-mantels aus Kaschmir hochgeschlagen, den Seidenschal lässig um den Hals geschlungen, die Aktentasche in der Hand. Er sah nicht aus wie jemand, der elf Stunden im Flugzeug gesessen hatte, der panisch aufgebrochen war, weil sein Sohn entführt worden war. Er war frisch rasiert, seine schwarzen Haare waren mit Gel frisiert. Er wirkte völlig relaxt.
Viele Frauen heiraten seltsame Männer, für die sie, Myriam, höchstens zwei Sterne vergeben würde. Kategorie sauber, mehr nicht. Denise hatte immer denselben Geschmack gehabt, was Männer betraf. Hatte sich das in den letzten Jahren geändert?
10
»Können Sie mir erklären, was hier los ist?« Oliver Winkler legte seinen Kaschmirmantel sorgfältig über den Stuhl, bevor er bereit war, Myriams ausgestreckte Hand zur Kenntnis zu nehmen. »Sie befinden sich hier auf einem Privatgrundstück.«
»Myriam Singer, ermittelnde Staatsanwältin am Oberlandesgericht Frankfurt. Wir haben telefoniert. Und der Platz vor Ihrem Haus ist öffentliches Gelände. Wir können nicht verbieten, dass die Presse dort steht.«
Oliver Winkler ignorierte die Antwort und
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