Wintermörder - Roman
Blick nicht von ihr.
»Er hat ihn ausgewählt?« Sie nahm einen Schluck Wasser.
»Vielleicht war Jost einfach nur der Einzige, der am Schreibtisch saß.«
»Tatsache ist, er hat mit ihm telefoniert. Wir müssen ihn im Boot lassen. Verlegen wir also den Termin. Was schlägt er vor?«
»Achtzehn Uhr dreißig.« Liebler schaute auf die Uhr.
»Also kurz vor den Hauptnachrichten. Er hat Sinn für das Dramatische. Sie können ihm mitteilen, dass ich einverstanden bin. Stellen Sie bis dahin eine Liste zusammen von allem, was wir wissen. Wir besprechen dann gegen achtzehn Uhr, welche Köder wir unserem Piranha geben.«
Liebler nickte.
»Was ist mit Oliver Winkler?«
»Geben wir ihm noch zehn Minuten, um sich zu beruhigen.«
Myriam fand Denise in Frederiks Bett. Als sie zur Tür hereinkam, setzte sie sich auf. Offenbar hatte es ihr gutgetan, ihren Mann anzuspucken. Sie war nicht mehr ganz so blass.
»Wie geht es dir?«
»Ich kann nicht eine Sekunde glauben, dass es wahr ist.«
»Wir werden ihn finden. Ganz sicher.«
»So etwas kannst du nicht versprechen.«
»Nein«, erwiderte Myriam.»Aber ich halte meine Versprechen.«
So war es immer gewesen. Myriam übernahm die Verantwortung. Was Verantwortung betraf, war sie wie ein Staubsauger mit 1400 Watt. Ihrem Verantwortungsbewusstsein entging nichts. Ihr Gerechtigkeitssinn war effektiver als Meister Proper.
Wer hatte ihr das noch einmal vorgeworfen?
»Ist das nicht absurd?«, fuhr Denise fort. »Die Entführung verbindet uns nicht, sie entfernt uns voneinander.«
»Deine Wut ist verständlich. Du hast deinen Mann gebraucht, und er war nicht da.«
»Wie kann er verschwunden sein, wo er gerade noch hier war?«, fragte Denise. »Er braucht nur wenige Minuten, bis er Daniel trifft. Ich hätte aus dem Fenster sehen können, bis er an der Ecke war. Oder ihn dorthin bringen können. Fünf Minuten. Ich hatte nicht einmal fünf Minuten für ihn.«
»Du solltest dir nicht die Schuld dafür geben. Es gibt jemanden, der diese Verbrechen begeht. Ich werde ihn kriegen. Ich bin gut in meinem Job, weißt du. Viele sagen sogar, die Beste.«
»Wenn ich mein Kind nie mehr in den Armen halten kann, werde ich sein wie eine Laus. Ich werde nur noch durchs Leben kriechen. Was kann ich tun? Ich muss doch irgendetwas tun.«
»Auf keinen Fall«, antwortete Myriam ungerührt, »solltest du wichtige Zeugen anspucken. Wärest du einer meiner Beamten, hättest du jetzt eine Abmahnung in der Tasche. Verdammt, Denise, hier geht es ausnahmsweise nicht um dich, sondern einzig allein um Frederik. Um deine Familie. Das Bild deines Großvaters. Verstehst du, das ist kein Versehen. Und auch kein Spiel. Da meint es jemand verdammt ernst.«
Sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf Denise’ Stirn. »Du musst überlegen. Überlegen, was der Entführer mit dem Bild sagen will.«
»Du hast dich nicht verändert«, antwortete Denise. »Das konntest du schon immer.«
»Was?«
»Gefühle beiseiteschieben, zugunsten einer scheinbaren Gerechtigkeit.«
Der Vorwurf traf Myriam bis ins Mark. Doch sie schwieg.
»Ich muss hier raus!«, sagte Denise.
»Ruhe dich besser aus.«
»Ich muss laufen, sonst explodiere ich.«
»Soll ich einen Beamten mitschicken?«
»Nein, ich schaffe es alleine.«
Myriam hinderte Denise nicht daran, das Haus zu verlassen. Die frische Luft würde ihr guttun, und wenn es stimmte, dass ein Marathon die Reserven neu lud, umso besser: Denise würde die Energie die nächsten Tage brauchen.
Im Wohnzimmer fand sie Oliver Winkler auf dem Sofa, die Beine übereinandergeschlagen.
»Meine Frau ist verständlicherweise wegen der Entführung mit den Nerven am Ende. Sie ist psychisch leider sehr labil. Zu sensibel.« Seine ganze Körperhaltung sprach von einer Arroganz, dass Myriam Mühe hatte, ihn nicht anzubrüllen. Er reagierte unnormal, nicht Denise.
Auch Liebler, der am Fenster stand, hob angesichts dieser Bemerkung erstaunt die Augenbrauen.
»Ihr Sohn ist entführt worden«, sagte er. »Lässt Sie das kalt?«
»Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen meine Gefühle mitzuteilen.«
Liebler ging drei Schritte auf Oliver Winkler zu. Allein durch seine Größe beherrschte er den Raum. Er beugte sich hinunter. Winkler wich automatisch zurück.
»Sie sind also am Mittwoch nach Hongkong geflogen? Hat es sich gelohnt?«
»Nein.« Winkler reagierte plötzlich nervös. Seine Hände schoben den Krawattenknoten nach oben. »Wie Sie genau wissen, hatte ich keine Zeit mehr, den Vertrag
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