Wintermörder - Roman
geliebt hatte? Oder daran, dass er den Willen seiner Mutter nicht respektierte. Zum ersten Mal wagte er, das Schweigen zu brechen.
Doch sein Blick ruhte nicht lange auf ihr. Entschlossen griff seine Hand nach unten zu ihren Füßen, wo sich die Kiste befand. Er reichte sie nach oben. Myriam bückte sich und nahm sie entgegen. Sie war schwerer als erwartet, und die Feuchtigkeit ließ sie durch die Finger rutschen. Fast wäre sie zu Boden gefallen.
In der Leichenhalle schien es kälter zu sein als draußen. Dr. Veit machte sie nervös, weil er ständig die Hände zusammenschlug, als wäre er in Sibirien. Gott sei Dank hatte ein Beamter der Spurensicherung, die in der Zwischenzeit eingetroffen war, an einen Heizstrahler gedacht, vor dem Myriam jetzt versuchte, sich Wärme zu verschaffen. Carl Winkler kam auf sie zu, um sich zu verabschieden. Sie sah seinem Gesicht an, wie die Sache ihm zusetzte. »Danke«, sagte sie, »das war ein großer Vertrauensbeweis. Ich hoffe, dass es uns hilft, Frederik zu finden.«
»Das hoffe ich auch.« Winkler nickte und wandte sich zum Gehen. Nach einigen Schritten drehte er sich um und fragte: »Haben Sie einen Spur von Denise?«
Schweigend schüttelte Myriam den Kopf.
»Das habe ich mir gedacht.«
Henri kam herüber, stellte sich neben sie und fragte, indem er ihr Handschuhe reichte: »Fangen wir an?«
»Ja.«
Myriam zog die Handschuhe über und nahm die Schere, die Henri ihr reichte. Die Kiste stand auf einer Folie, mit der der Klapptisch abgedeckt war. Vorsichtig hob sie den Deckel und nahm den Umschlag heraus. Als sie das Wachssiegel löste, zitterten ihre Hände. Vor Kälte und vor Aufregung. Die Verantwortung lag bei ihr. Doch, versuchte sie sich einzureden, Verantwortung hieß nicht, nichts zu tun, sondern Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie falsch sein konnten. Es war ein Tabu, das sie brach. Sie versuchte, an Frederik zu denken und an Denise. Henriette Winkler war tot. Ihre Wünsche waren nach ihrem Tod ebenso unwirklich wie sie selbst.
Der Plastikbeutel im Innern des Umschlags war feucht und rutschig. Langsam schnitt sie den verschweißten Rand ab. Ihre Finger griffen hinein und zogen Papiere heraus. Sortierten sie auf dem Schreibtisch. Henri hatte das Diktiergerät am Mund und beschrieb, was sie auf den Tisch legte.
Einen Schlüssel.
Eine Mappe DIN A 4 mit schwarzem Einband und Stockflecken an den Rändern.
Ein grauer Umschlag DIN A4.
Ein grauer Umschlag DIN A5.
Eine Weile standen alle davor und starrten darauf. Henri, Dr. Veit und sie selbst hatten die Augen auf das gerichtet, was Henriette Winkler mit ins Grab genommen hatte. Was sie hier machten, war nichts anderes als eine seelische Obduktion.
Plötzlich erhellte grelles Scheinwerferlicht die Leichenhalle, als der Polizeifotograf zur Kamera griff. Immer wieder leuchtete das rote Blitzlicht auf.
Henri wollte weiterdiktieren und brach plötzlich ab. Myriam spürte, dass er aufgeregt war. Doch als er weitersprach, war seine Stimme wieder klar und entschieden.
»Die Spurensicherung erstellt einen Wachsabdruck des Schlüssels.« Er reichte den Schlüssel Katja Weiss, die Myriam angefordert hatte, weil sie ihr jung und flexibel genug erschien, Wege zu beschreiten, die sich am Rande der Gesetze bewegten. Sie hatte diese wie die anderen Kollegen darüber aufgeklärt, was sie vorhatte, und gesagt, dass sie es ihrer Entscheidung überließ, ob sie die Sache unterstützten oder nicht.
Henri griff nach der schwarzen Mappe. Als er sie öffnete, fiel ein Blatt heraus. Myriam bückte sich danach. Es war nicht sofort zu erkennen, worum es sich handelte, was auch daran lag, dass die Farben verblasst waren und die Schrift nur schwer zu entziffern war.
»Pläne«, hörte sie Henri sagen, der die Mappe durchblätterte. Er legte das Diktiergerät zur Seite. »Siehst du, es sind alte Stadtpläne.«
Sie beugte sich darüber. »Du hast Recht.«
»Jetzt müssten wir nur noch wissen, von welcher Stadt. Die Straßennamen sind schwer zu entziffern. Das ist ein ganzes Viertel auf Kleinstformat gebracht.«
»Es sind deutsche Namen«, sagte Myriam.
Henri nickte.
»Ich verstehe zwar nicht, warum Henriette Winkler Pläne mit ins Grab nehmen wollte, doch wir brauchen vernünftige Kopien der Unterlagen. Ich kann nur hoffen, dass auf den Fotoaufnahmen später noch etwas zu erkennen ist. Was meinen Sie?«, wandte sie sich an den Fotografen.
»Heute ist alles machbar«, antwortete er.
»Versuchen Sie es«, sagte Myriam. »Pläne,
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